1Q84: Buch 3
zu diesem Zorn.« Und es wächst jeden Tag, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass Sie sehr auf sich achten müssen«, sagte die alte Dame. »Schon aus diesem Grund ist es wichtig, dass Sie sich so schnell wie möglich an einen sicheren Ort begeben.«
»Sie haben völlig recht. Aber es gibt etwas, das ich unbedingt vorher noch erledigen muss.«
Nachdem sie ihr Telefonat beendet hatten, ging Aomame auf den Balkon und beobachtete durch die Plastikblenden die nachmittägliche Straße und den Spielplatz. Die Sonne senkte sich bereits. Ich muss Tengo finden, dachte sie, bevor das Jahr 1Q84 zu Ende geht und bevor sie mich finden. Unter allen Umständen.
Kapitel 15
Tengo
Etwas, worüber man nicht sprechen darf
Tengo verließ den Gerstenkopf und schlenderte eine Weile durch die Straßen, um seinen Gedanken nachzuhängen. Irgendwann beschloss er, sich noch einmal auf den Weg zu dem kleinen Spielplatz zu machen, wo er zum ersten Mal die beiden Monde gesehen hatte. Er würde wie damals auf die Rutschbahn steigen und sich die Monde anschauen. Vielleicht hatten sie ihm etwas zu erzählen.
Im Gehen überlegte Tengo, wann er das erste Mal dort gewesen war, aber er musste feststellen, dass er es nicht mehr wusste. Die Zeit verlief nicht mehr regelmäßig, und sein Gefühl für Abstände war unsicher. Wahrscheinlich war es im Frühherbst gewesen. Er erinnerte sich, dass er ein langärmliges T-Shirt getragen hatte. Und jetzt war Dezember.
Ein kalter Wind blies Scharen von Wolken in Richtung der Bucht von Tokio. Die einzelnen Wolken wirkten formlos und erstarrt, wie aus Gips. Hinter ihnen schauten hin und wieder die beiden Monde hervor. Der vertraute gelbe Mond und der neue, kleine grüne. Beide waren zu zwei Dritteln voll. Der kleine Mond mutete an wie ein Kind, das sich am Rocksaum seiner Mutter festklammert. Die Monde standen etwa an der gleichen Stelle wie beim ersten Mal, als hätten sie reglos auf Tengos Rückkehr gewartet.
Der Spielplatz war menschenleer. Das weiße Licht der Laterne schien kälter als damals im Herbst. Die kahlen Äste des Keyaki-Baums erinnerten an von Wind und Wetter gebleichte Knochen. Es war ein Abend wie geschaffen für den Ruf einer Eule. Aber natürlich gab es in der Großstadt keine Eulen. Tengo zog sich die Kapuze seines dünnen Anoraks über den Kopf und vergrub beide Hände in den Taschen seiner Lederjacke. An der Rutschbahn angelangt, erklomm er die Leiter und sah, an das Geländer gelehnt, zu den beiden immer wieder zwischen den Wolken auftauchenden Monden hinauf. Hinter ihnen blinkten stumm ein paar Sterne. Der Wind hatte den schmutzigen Dunstschleier, der häufig über der Stadt hing, davongeblasen, und die Luft war klar.
Wie viele Menschen hatten, von ihm abgesehen, die beiden Monde inzwischen bemerkt? Fukaeri natürlich. Aber sie hatte es von Anfang an gewusst. Wahrscheinlich. Darüber hinaus schien in Tengos Umgebung niemandem aufgefallen zu sein, dass ein Mond hinzugekommen war. Sahen die Leute das nicht, oder handelte es sich um eine so allgemein bekannte Tatsache, dass man einfach nicht darüber sprach? Tengo hatte bisher außer dem Freund, der ihn an der Yobiko vertreten hatte, niemanden auf den Mond angesprochen. Vielmehr hatte er sich gehütet, ihn überhaupt zu erwähnen. Als sei es ein moralisches Tabuthema.
Warum eigentlich?
Vielleicht wollten die Monde nicht, dass er über sie sprach. Womöglich waren sie eine an ihn persönlich gerichtete Botschaft, und es war ihm nicht gestattet , diese Information mit anderen zu teilen.
Aber auch das war ein seltsamer Gedanke. Warum sollte die Anzahl der Monde eine persönliche Botschaft an ihn sein? Und wie hätte sie gelautet? Eher erschien es Tengo wie ein kompliziertes Rätsel. Aber wenn es so war, wer gab ihm dieses Rätsel dann auf? Und wer war es, der ihm nicht gestattete , darüber zu sprechen?
Der Wind heulte in den Ästen des Keyaki-Baums. Es klang wie das zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgequälte Stöhnen eines Menschen, der jede Hoffnung verloren hatte. Den Wind in den Ohren, blieb Tengo auf der Rutschbahn sitzen und starrte hinauf zu den Monden, bis er ganz steifgefroren war. Ungefähr fünfzehn Minuten lang. Vielleicht auch etwas länger. Er hatte kein Zeitgefühl. Vom Whiskey war ihm einigermaßen warm gewesen, aber jetzt war sein Körper kalt wie ein einsamer Stein auf dem Meeresgrund.
Der Wind trieb die Wolken zügig gen Süden, doch es kamen immer neue nach. Hoch oben
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