Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
20 - Im Reiche des silbernen Löwen I

20 - Im Reiche des silbernen Löwen I

Titel: 20 - Im Reiche des silbernen Löwen I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
warum, ohne schuld zu sein? Warum bleiben tausend andere stehen, ohne es zu verdienen? Warum nimmt er dem Braven alles, alles, selbst das allerletzte, was ihm geblieben ist, und dem Verdienstlosen gibt er fort und immerfort, mehr und immer mehr zu dem, was er schon vorher besessen hat?“
    „Mit dem ‚Braven‘ meinst du natürlich dich?“
    „Ja.“
    „Und unter den Verdienstlosen verstehst du diejenigen, welche deinen Weg, deine Absichten und Hoffnungen durchkreuzten?“
    „Ja, sie und auch noch andere.“
    „Welch ein Hochmut! Du setzt dich also zu alleroberst, schaust selbstgerecht und selbstgefällig von dieser stolzen Höhe herab, richtest deine Mitmenschen mit einem einzigen kalten, vernichtenden Wort und duldest den, als dessen Spielzeug du dich soeben noch bekanntest, weder neben und noch viel weniger über dir! Weiß der Mensch, wenn er gefallen ist, wirklich nicht, warum? Bist du an deinem Schicksal wirklich ohne Schuld? Warst du in Wirklichkeit der immerwährend Brave, und haben die, welche du verdienstlos nennst, das, was ihnen gegeben wurde, wirklich nur der Ungerechtigkeit Gottes zu verdanken? Was verstehst du unter Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit? Was dir gefällt und was dir nicht gefällt! Denke dir, du seist ein Kind und sähest in der Hand deines Vaters eine für dich noch unverdauliche oder gar giftige Frucht! Du bittest ihn, sie dir zu geben. Bekommst du sie, so hältst du ihn für gerecht; verweigert er sie dir, so nennst du ihn ungerecht. Er aber hat, wie du später einsehen wirst, als liebevoller, weiser Vater gehandelt.“
    „Ich bin kein Kind, sondern so alt geworden, daß ich um die Einsicht, von welcher du redest, nun endlich einmal bitten möchte!“
    „Grad weil sie dir fehlt, bist du trotz deiner Behauptung noch ein Kind, ein zornig schmollendes, vertrauensloses und undankbares Kind! Wenn du das jetzt in deinem Alter noch bist, so bist du es in deiner Jugend noch viel mehr gewesen. Du warst zu sehr Kind, als daß du eingesehen hättest, was zu deinem Wohle diente. Du hast falsch gewählt, vielleicht gar die giftige Frucht aus der sie dir verweigernden Hand des Vaters gerissen, und nun du dir durch ihren Genuß das ganze Leben vergiftet hast, klagst du über seine Ungerechtigkeit oder magst überhaupt nichts von ihm wissen. Es ist freilich nicht schwer, Gott zu leugnen, wenn man ihm nie Gehorsam geleistet, sondern sich nur nach dem eigenen Willen gerichtet hat. Da kommen unausbleibliche Stunden stiller, heimlicher Selbstanklage; es naht von Zeit zu Zeit der peinigende Gedanke, daß man doch vielleicht unrecht gehandelt und damit Gottes Gericht, den Wahrspruch des Allgerechten, auf sich herabgerufen habe. Was tut der Kurzsichtige dann, um die anklagende Stimme des Innern, des Gewissens, zum Schweigen zubringen? Ergreift zum kürzesten, aber auch trügerischsten Mittel: er leugnet einfach Gott. Wenn es keinen Gott gibt, gibt es kein Gesetz und kein Gericht, kein Unrecht und kein Gewissen, keine Anklage und keine Strafe, und wer mit dem Leben unzufrieden sein zu müssen glaubt, der wirft die Schuld nicht auf sich, sondern eben wieder und allein auf Gott, den er doch soeben erst geleugnet hat. Du hörst und siehst, daß du nicht um Gott hinumkommst, ihn nicht aus deiner Welt schaffen kannst, sondern in menschlich unlogischer aber göttlich logischer Weise sein Dasein über allen Zweifel erhebst, indem du ihn wegen seiner angeblichen Ungerechtigkeit leugnest.“
    Es trat eine Pause ein; dann sagte er halblaut und nachdenklich:
    „Wie drücktest du dich aus. Effendi? Ich habe – – – die giftige Frucht aus der sie verweigernden Hand des Vaters gerissen – – – gerissen! – – –! Also mit Gewalt meinen Willen durchgesetzt – – –. Das hat mir noch niemand gesagt, auch ich selbst nicht. – – – Dann kommen Stunden der Selbstanklage – – – peinigende Gedanken – – – das Gewissen! – – – Man wirft aus Furcht vor sich selbst alle Vorwürfe auf Gott – – – leugnet ihn aus Angst – beweist aber grad dadurch sein Dasein – – –. Warte, Effendi warte nur!“
    Er ließ den Kopf sinken, und ich hütete mich, ihn zu stören. Nach einer Weile fuhr er mit der Frage fort:
    „Woher kennst du mich so genau? Wie kommst du dazu, mir mein Inneres, meine heimlichsten Gedanken, Gefühle und Ahnungen zu enthüllen?!“
    „Ich habe nur im allgemeinen gesprochen.“
    „Das ist unmöglich, denn es stimmt, es trifft zu! Und doch

Weitere Kostenlose Bücher