20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
Nachdem ich mich noch einmal überzeugt hatte, daß es hier unter mir dunkel genug war und niemand seine Aufmerksamkeit nach dieser Stelle richtete, ließ ich das freie Ende meines Lassos, welches mehr als lang genug war, hinab und turnte mich an demselben hinunter. Unten angekommen, lauschte ich eine Weile; es regte sich nichts; der Häuptling lag nur wenige Schritte von mir entfernt. Er mußte schlafen, denn wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, so hätte er das von mir verursachte Geräusch hören müssen. Ich hatte es nicht vermeiden können, im Hinabklettern an den Felsen zu streifen, zwar nicht sehr laut, aber doch so, daß es für ein wachsames Ohr in dieser geringen Entfernung vernehmlich war.
Nun legte ich mich auf die Erde nieder und kroch zu ihm hin. Er lag mit dem Kopf an dem Felsen. Als ich mein Ohr nahe an sein Gesicht gebracht hatte, hörte ich seine leisen, regelmäßigen Atemzüge. Jetzt richtete ich mich halb auf, legte ihm die linke Hand fest um den Hals und gab ihm zu gleicher Zeit zwei Faustschläge gegen die rechte Seite seines Kopfes. Es ging ein krampfhaftes Zucken durch seinen Körper; dann lag er still. Auch als ich meine Hand von seinem Halse nahm, regte er sich nicht.
Die erste Hälfte meines beabsichtigten Streichs war gelungen; nun galt es, ihn unbemerkt nach oben zu schaffen. Ich richtete mich also ganz auf, hob ihn empor und trug ihn nach der Stelle, an welcher das Lasso hing. Dort legte ich ihn wieder nieder und sah nach dem Wachtfeuer hin. Man hatte dort jedenfalls nichts bemerkt, aber ich sah, daß grad in diesem Augenblick ein Roter vom Feuer aufstand und sich langsamen Schritts so ziemlich in der Richtung, in welcher ich mich befand, von demselben entfernte. Das war gewiß nur Zufall, konnte mir aber verderblich werden.
Ich hatte den Häuptling vor allen Dingen fesseln und knebeln wollen; dazu gab es aber jetzt keine Zeit, denn ehe ich damit fertig wurde, konnte der Wächter bei mir sein. Zwar wäre es mir wohl möglich gewesen, ihn unschädlich zu machen, aber ob dies ohne alles Geräusch geschehen würde, das war zweifelhaft; ich mußte also schnell fort.
Darum zog ich dem Häuptling das Lassoende unter den Armen hindurch, machte einen Knoten und kletterte dann an dem festen, fünffach geflochtenen Riemen in die Höhe. Oben angekommen, sah ich mich zunächst nach dem Wächter um. Er befand sich schon in der Nähe. Wenn er so wie jetzt weiterging, kam er nicht ganz nahe an den Felsen heran, sondern in einer Entfernung von vielleicht fünfzehn Schritten an demselben vorbei. Ich dachte zunächst, ihn vorüberzulassen, gab aber diesen Gedanken schnell wieder auf, denn sein scharfes Auge konnte den Häuptling doch vielleicht bemerken. In diesem Fall mußte er sich sagen, daß To-kei-chun sich jetzt an einer andern Stelle befand, was doch einen Grund haben mußte; es war also anzunehmen, daß er herbeikommen werde. Darum beeilte ich mich, den betäubten Häuptling zu mir heraufzuziehen.
Er war nicht leicht, und leider bestand die Felskante, über welche das Lasso streifte, nicht aus hartem Gestein; sie war verwittert; es löste sich ein Stück ab und fiel hinunter. Das gab ein Geräusch, welches der Rote hörte. Er kam sofort mit raschen Schritten näher. Der Häuptling hing vielleicht noch zwei Ellen unter mir; ich beeilte mich, ihn vollends heraufzubringen, was nicht ohne Geräusch geschehen konnte. Der Rote hörte es und sprang schnell bis zum Felsen hervor. An demselben emporblickend, mußte er trotz der Dunkelheit den am Lasso über ihm hängenden Körper sehen.
„Uff!“ stieß er überrascht hervor und eilte nach der Stelle hin, wo der Häuptling gelegen hatte. Als er sah, daß dieser fort war, kam er wieder herbei.
„Was tut To-kei-chun da oben?“ fragte er, grad als ich den Genannten über die Kante auf den Felsen zog. „Kann der Häuptling der Comanchen fliegen?“
Es erfolgte natürlich keine Antwort. Das mußte sein Mißtrauen erregen, denn wenn der Mensch, welcher soeben da oben in der Höhe verschwand, wirklich der Häuptling gewesen wäre, so hätte er auf die Frage doch gewiß ein Wort gesagt. Der Indianer wußte augenscheinlich zuerst gar nicht, wie er sich verhalten solle; es war unmöglich, den senkrechten Felsen zu erklettern, und doch hatte er gesehen, daß jemand hinaufgekommen war. Dies mußte der Häuptling sein, der aber nicht geantwortet hatte. Wie war dies zu erklären? Was war da zu tun? Lärm machen? Der Häuptling hatte keinen Laut von sich
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