20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
Häuptlings zu vergreifen; meine Drohung, ihn zu töten, hatte keinen Erfolg; sie kamen herauf. Aber den Häuptling tragen und mit dieser Last in dunkler Nacht und bei dem außerordentlich schwierigen Terrain den Verfolgern entgehen, das war keine Kleinigkeit. Ja, wenn es mir gelungen wäre, ihn unentdeckt zu entführen, so hätte ich mir Zeit nehmen können; nun aber mußte ich mich beeilen, und das machte die Sache gefährlich.
Ja, wenn sie alle fortgelaufen wären, so hätte das Entkommen für mich gar keine Schwierigkeiten gehabt. In diesem Falle wäre ich mit meinem Gefangenen wieder von dem Felsen hinunter, um die Flucht über den verlassenen Lagerplatz hinaus auf die Ebene zu nehmen und in einem Bogen die Stelle zu erreichen, wo meine Gefährten sich befanden. So kühn dies klingen mag, so ungefährlich wäre es gewesen. Leider aber war eine Anzahl von ihnen zurückgeblieben; fünf oder sechs befanden sich am Feuer bei dem Gefangenen, um diesen nun um so strenger zu bewachen, und die andern, wohl mehr als zehn, standen unten, dem Felsen gegenüber, und richteten ihre Aufmerksamkeit herauf zu mir. Da konnte ich freilich nicht hinab.
Es blieb mir also nichts übrig, als die gefährliche Kletterpartie zu unternehmen. Dabei mußte ich die Arme frei haben, um mich meiner Hände bedienen zu können; ich war gezwungen, den Häuptling auf dem Rücken zu tragen, ihn mir dort festzubinden. Als dies mit Hilfe des Lassos und nach Überwindung der dabei erklärlichen Schwierigkeiten geschehen war, trat ich den Rückzug an, und zwar auf demselben Wege, der mich heraufgeführt hatte und den ich kannte.
Das Geheul der Indianer war verstummt, und ich hörte nichts als das Geräusch, welches ich selbst verursachte und welches zu vermeiden eine Unmöglichkeit war. Wie oft mußte ich mich an Felsenzacken und Bäumen anhalten, um nicht zu stürzen! Da krachten dürre Äste, da rollten Steine, die ich lostrat, in die Tiefe. Das mußten die Roten hören, die sich jetzt so ruhig verhielten. Sie kamen lautlos heraufgestiegen, und der von mir verursachte Lärm zeigte ihnen den Weg zu mir. Die einzige Hoffnung, welche ich hatte, beruhte auf der Beschaffenheit der Örtlichkeit. Ich kannte meinen Weg, und ihnen mußte es viel schwerer werden, die Hindernisse, welche ihnen das unbekannte Terrain entgegenstellte, zu überwinden.
So kam ich weiter und weiter, bald aufrecht gehend, bald unter und zwischen den Bäumen kriechend, bald Felsen erkletternd und bald steile Senkungen hinabrutschend, und das alles mit dem Häuptling auf dem Rücken.
Unglücklicherweise hatte dieser noch immer keinen Knebel im Mund. Vorhin, als ich ihm zum zweitenmal betäubte, hatte ich versucht, ihm den Mund zu öffnen; dieser war aber so fest zu, daß ich ihn nur mit dem Messer hätte aufbrechen können, und das wollte ich nicht. Nun kam ihm das Bewußtsein zurück; das merkte ich aus den Bewegungen, welche er machte. Die Arme vom Körper zu nehmen und die Füße auseinander zu bringen, das vermochte er nicht; aber er konnte die Beine, trotzdem sie zusammengebunden waren, auf und nieder bewegen, indem er die Knie bog, und das tat er so kräftig wie möglich, um mir seine Füße von hinten in die Kniekehlen zu stoßen, dies erschwerte mir die Kletterei bedeutend, aber ich kam doch vorwärts. Da fiel es ihm ein, daß es besser sei, mit dem Mund zu arbeiten, als mit den Beinen, und er schrie:
„Hierher, hierher, ihr Krieger der Comanchen! Hier bin ich; hier schleppt er mich!“
„Schweig!“ herrschte ich ihm zu. „Es ist mir Ernst; wenn du nicht ruhig bist, so ersteche ich dich!“
„Stich doch zu!“ antwortete er in höhnischem Ton. „Wie willst du den Gefangenen freibekommen, wenn du mich ermordet hast?“
Er schrie also weiter, nur zuweilen eine Pause machend, um Atem zu holen und dann um so lauter zu brüllen. Da mußte ich freilich seinen Leuten in die Hände laufen. Darum zog ich das Messer, setzte ihm die Schneide desselben an die Kehle und drohte:
„Hörst du nicht sofort auf, so schneide ich dir die Gurgel durch!“
Wie sehr der Kerl sich auf meine Menschlichkeit verließ, bewies er dadurch, daß er, obgleich er die scharfe Klinge an seinem Halse fühlte, doch antwortete:
„Schneiden? Du wolltest doch stechen! Du wirst weder das eine noch das andere tun! Hier bin ich, ihr Comanchen, hier! Kommt hierher; hierher müßt ihr kommen!“
Das mußte anders werden; so durfte es nicht weitergehen, denn dieses Gebrüll zeigte nicht nur seinen
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