20 - Mutter der Monster
kieferorthopädische Behandlung. Dringend. Heidi wusste nicht, was sie waren, und sie wollte es auch nicht wissen. Sie wollte ihnen nur noch entkommen.
Erst als sie angefangen hatten, sie zu jagen, hatte sie erkannt, dass sie in Wirklichkeit zwei Dinge wollte.
Heidi Lindstrom wollte auch noch am Leben bleiben.
Sie sprintete über die Kreuzung Oak – Poplar Street. Sie wusste, dass es jetzt nicht mehr lange dauern würde. Wie sollte es auch anders sein? Inzwischen konnte sie ihre Beine nicht einmal mehr fühlen.
Warum zum Teufel holten sie sie nicht einfach ein und erledigten sie?
Warum machten sie dem Spiel nicht ein Ende? Töteten sie? Sie hätte es jedenfalls getan. Aber oh nein, nicht diese Kerle. Sie hielten sich zurück. Taktierten anders. Spielten Katz und Maus mit ihr. Es hätte sie richtig wütend gemacht, wenn sie nicht so viel Angst gehabt hätte.
Niemand legte sich mit Heidi Lindstrom an. Sondern Heidi legte sich mit ihnen an. So sollte es eigentlich sein. Aber heute Nacht war nichts so, wie es sein sollte. Heute Nacht hatte sie einen Fehler gemacht. Einen, der sie alles kosten würde.
Warum bin ich nicht einfach zu Hause geblieben?
Sie stolperte jetzt. Der untere Teil ihres Körpers verweigerte den Dienst. Schweiß tropfte von ihrer Stirn und brannte ihr in den Augen.
Wäre es wirklich so schlimm gewesen, nur dieses eine Mal zu Hause zu bleiben?
Zu Hause, wo die Wände so dünn waren, dass man alles hindurch hörte. Zu Hause, der Ort, wo es niemals am schönsten gewesen war. Ein Ort, wo jedes zornige, verletzende Wort, das jemals gesagt worden war, für immer weiterlebte. Der letzte Ort auf Erden, wo sie sein wollte.
Vor allem, wenn ihre Mutter den Fernseher einschaltete.
Sie rannte jetzt nach vorn gebeugt, beide Arme gegen ihren Bauch gepresst, erfüllt von der Erinnerung an den Lärm des Fernsehers. Mehr als alles andere war es dieser Lärm, der sie dazu gebracht hatte, aus dem Schlafzimmerfenster zu klettern und zum Bronze zu gehen.
Der einzige Ort, wo sie alles vergessen konnte, was sie war, und alles, was sie nicht war. Wo die Musik laut genug war, um die lärmenden Fernsehprogramme ihrer Mutter aus ihrem Kopf zu vertreiben. Immer derselbe Lärm, Nacht für Nacht.
Serie um Serie mit Familien, die warmherzig und mitfühlend waren. Familien mit Kids und Eltern, die natürlich auch ihre Probleme hatten, aber nicht solche, die sich nicht mit etwas Liebe und guten Worten lösen ließen. Serien, in denen die Kids früher oder später zugaben, dass die Eltern Recht hatten, immer Recht gehabt hatten. Immer Recht haben würden. Sie gestanden ihre Sünden, ihre Schuld, ihre Liebe, um dann mit offenen Armen empfangen zu werden und Absolution zu erhalten.
Die reinste Märchenwelt, dachte Heidi. Sie schnappte nach Luft, als sie in die Larch Street bog. Ihr Atem war eine weiß glühende Nadel, die ihr in die Seite stach.
Das Problem war, dass ihre Mom nie zu verstehen schien, dass diese Familien im Fernsehen nicht Wirklichkeit waren, und dass sie ebenso wenig verstand, dass selbst Märchenkinder ihre Liebe nicht ohne Gegenleistung verschenkten.
Diese Märcheneltern mussten die Liebe ihrer Kinder auf die altmodische Art gewinnen. Indem sie sich die Liebe verdienten. Eine Tatsache, die sogar die Autoren von drittklassigen Sitcoms zu kennen schienen. Die aber, trotz all der Stunden hingebungsvollen Fernsehens, nie bis in das Gehirn von Heidis Mom vorgedrungen war.
Ihre Erziehungsmethode beschränkte sich hauptsächlich darauf, Heidi all ihre Fehler vorzuwerfen. Sich darüber zu beklagen, was für eine Enttäuschung Heidi doch war. Hätte Heidi jedes Mal ein Fünfcentstück bekommen, wenn ihre Mutter sagte, dass sie nicht verstand, wieso ihre eigene Tochter nur derart missraten sein konnte, dann hätte sich Heidi schon mit neun Jahren eine Eigentumswohnung am Strand von Malibu leisten können.
An der Ecke Larch, Sycamore Street stolperte sie. Ihre keuchenden Atemzüge waren die einzigen Laute, die zu hören waren.
Die Sycamore Street war eine Durchgangsstraße und nicht ganz so fein wie die angrenzenden Straßen. Die Laternen leuchteten hier nicht so hell, vorausgesetzt, sie funktionierten überhaupt. Die Häuser hatten statt Rasen große Stücke brauner Borke in ihren Vorgärten. Zierborke nannte man das.
Es sah in den heißen südkalifornischen Sommern nicht so hübsch aus wie Rasen, aber immerhin reduzierte sich dadurch die Wasserrechnung, ein Satz, den Heidi tausendfach aus dem Mund ihrer
Weitere Kostenlose Bücher