20.000 Meilen unter den Meeren
nur zwei dicke Glasplatten trennten. Der Gedanke, dass dieses Glas durch den Wasserdruck brechen könnte, war schrecklich, aber stärker noch war die Neugier, die uns an das riesenhafte Fenster zum Meer zog.
Auf 1 sm im Umkreis war das Wasser erhellt und wir konnten schauen, was darin vorging: ein Anblick, wie ihn noch keiner von uns vorher erlebt hatte. Die Durchsichtigkeit des Meerwassers ist ja bekannt. Seine mineralischen Zusätze machen es klarer als Quellwasser und es gibt Stellen bei den Antillen, an denen man den sandigen Meeresboden in 145 m Tiefe mit erstaunlicher Klarheit erkennen kann.
Hier war es nicht Sonnenlicht, das unsere Umgebung erhellte, sondern die starke elektrische Strahlung der Nautilus . Da wir aus dem dunklen Salon beobachteten, wirkte der Kontrast noch stärker und ich hatte die Empfindung, um mich herum befinde sich ein Aquarium mit flüssigem Licht.
Ned Land hatte seinen aufwallenden Zorn längst wieder vergessen, so schlug ihn dieser Anblick in Bann. Und auch ich verstand den Kapitän Nemo jetzt ein ganzes Stück besser. Er hatte sich eine eigene Welt eröffnet, deren ganz eigene Wunder er erfuhr. Allein diese Erfahrung trennte ihn schon von der übrigen Menschheit. »Warum sehe ich keine Fische?«, fragte Ned Land.
Conseil hörte »Fische« und sah vor diesem monströsen Aquarium die Gelegenheit gekommen, seinen Freund und Schicksalsgefährten Land über diesen Bereich der Zoologie ein für alle Mal zu belehren.
»Fische«, sagte er, »gehören zur niedrigsten Klasse der Wirbeltiere; sie unterscheiden sich von den übrigen dadurch, dass sie, meist Eier legend, mit kaltem Blute versehen sind, während des ganzen Lebens durch Kiemen atmen, ein nur aus zwei Abteilungen, Kammer und Vorkammer, bestehendes Herz und, mit einigen wenigen Ausnahmen, nach hinten geschlossene blindsackähnliche Nasengruben besitzen, entweder Flossen oder gar keine äußeren Glieder und eine entweder nackte oder beschuppte Haut haben. Zwar kann kein Fisch völlig skelettlos sein, allein in der Bildung und Härte des Knochengerüsts finden so viele Abstufungen statt, dass die unvollkommensten Fische außer einer weichknorpligen Wirbelsaite, auch Chorda , gar kein Skelett besitzen.«
»Was redet er da?«, fragte Ned Land, der Fischer.
»Ich versuche gerade, Ihnen einen Begriff von den Fischen zu geben«, antwortete Conseil.
»Aber ich habe mein Leben lang mit Fischen zu tun gehabt.«
»Ja, Sie haben sie vielleicht getötet, das mag sein. Aber ich wette, dass Sie keine Ahnung haben, wie man sie einteilt.«
»Natürlich weiß ich das: in genießbare und ungenießbare.«
»So redet ein Fresser, aber kein Wissenschaftler. Doch ich bin gern bereit, Ihnen ein bisschen beizubringen. Man teilt die Wirbeltierklasse ›Fische‹ in folgende Ordnungen: Primo: die Teleostei oder Knochenfische, mit freien Kiemen, Kiemendeckel und knöchernem Skelett. Barsche zum Beispiel.«
»Schmecken ganz gut.«
»Außerdem Süßwasserfische wie Hecht und Karpfen.«
»Süßwasser? Pfui Deibel.«
» Secundo: Ganoidei oder Schmelzschupper, mit oft knorpeligem Skelett und vielen Klappen im Aortenstiel. Beispiele: Wels, Stör und gemeiner Flösselhecht.«
»Stör ist prima.«
»T ertio: Dipnoi , das sind Doppelatmer oder Lungenfische, denn sie haben sowohl Kiemen wie Lungen und stellen eine Übergangsform zu den Amphibien dar. Der afrikanische Schuppenmolch ist einer von diesen Gesellen.«
»Sicher nicht essbar.«
» Quarto: Selachii oder Knorpelfische, mit angewachsenen Kiemen ohne Kiemendeckel und mit knorpeligem Skelett – in diese Ordnung gehören Haie und Rochen.
Quinto: Cyclostomata oder Rundmäuler, mit rundem Saugmund und angewachsenen Kiemen, und sexto endlich die Leptocardia oder Röhrenherzen, die niedrigsten der Niedrigen, Fische ohne Schädel, Herz und Hirn, mit Kiemen, die in der Bauchhöhle liegen, und farblosem Blut.«
»Sie machen das ganz gut, so mit ein bisschen Latein …«, und das war nur zur Hälfte spöttisch gemeint.
»Na, was war das schon«, wehrte Conseil ab. »Wenn man die Ordnungen kennt, kennt man noch gar nichts. Denn die unterteilen sich wieder in Familien, Gattungen und Arten, und zwar bei den Teleostei …«
»Aber schauen Sie doch aus dem Fenster, da haben Sie sämtliche Familien, Gattungen und Arten, an denen Ihnen gelegen sein kann. Wozu sie lateinisch beschwören, wenn sie vor unseren Augen herumschwimmen wie in einem Aquarium.«
»Na«, sagte ich, »im Aquarium stecken eher wir. Das
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