2001 Himmelsfeuer
mehr wie früher.«
Jared streichelte eine Locke in Ericas Nacken. Sie zitterte. Die Nacht verdichtete sich, die Sterne funkelten immer heller. Goldene Augen leuchteten im Buschwerk. Ein Nachtvogel ließ ganz in der Nähe seinen einsamen, hohlen Ruf erklingen. »Als ich noch jung war«, fuhr Jared fort, »wollte ich immer Architekt werden, aber mein Vater bestand darauf, dass ich Anwalt wurde. Also wurde ich Anwalt. Ich hatte ihn immer bewundert und respektiert, aber an jenem Tag, als er mir vorwarf, ich hätte die Familie blamiert, sah ich einen völlig fremden Menschen vor mir, einen Mann, den ich nicht mochte. Ich dachte damals, dass ich ihm nie würde vergeben können. Heute jedoch …« Er seufzte und blickte geradeaus auf die Bäume. »Seit ich Ihre Geschichte kenne und Mrs. Dockstaders Reaktion gesehen habe, glaube ich, dass Eltern und Großeltern, Schwestern und Brüder auch nur Menschen sind mit allen Schwächen. Geben Sie ihr Zeit, Erica. Ich bin ganz sicher, dass ihr die Sache nachgehen wird. Spüren Sie das nicht auch?«
Als Erica ihn schließlich anblickte, hatten ihre Augen den gleichen Bernsteinton wie die der Tiere draußen in der Nacht. »Aber das Bild, Jared. Es hat mit der Vision zu tun, die mich seit meiner Kindheit immer wieder in meinen Träumen heimsucht.«
Jared zog die Brauen hoch. »Vision? Was meinen Sie damit?«
Erica öffnete den Wagenschlag und stieg aus. Jared folgte ihr. Unter ihnen lag das Coachella Valley wie ein schwarzer See mit reflektierenden Sternen bis zum Horizont. Sie blieben einen Augenblick schweigend stehen, atmeten tief die kalte Nachtluft und den würzigen Duft von Fichten und Walderde ein. Schließlich wandte Erica sich einem Trampelpfad zu, der vom Mondlicht erhellt wurde.
Jared hielt Schritt mit ihr, während sie redete: »Das Bild in der Höhle – seit meiner Kindheit erscheint es mir immer wieder in einem Traum. Deswegen hatte ich Sam auch gebeten, mich mit dem Projekt zu beauftragen, nachdem ich das Bild in den Fernsehnachrichten gesehen hatte. Sam sollte ruhig glauben, dass ich mich nach dem Fiasko mit dem Schiffswrack von Chadwick um den Auftrag riss. Dass ich meinen Ruf wiederherstellen wollte. Aber das war nicht der wahre Grund. Weil ich von dem Bild mein ganzes Leben lang geträumt hatte, hoffte ich, eine Antwort in der Höhle zu finden. Stattdessen gibt es nur ein Rätsel mehr.«
Sie kamen an einen Fluss, der gurgelte und wisperte, als ob er geheimnisvolle Dinge erzählte. Erica begann zu frösteln. Jared zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. »Sie haben Mrs. Dockstader nach Kopfschmerzen gefragt. Warum?«
»Ich leide darunter, seit ich denken kann – keine normalen Kopfschmerzen, eher wie Migräne. Heftige, starke Schmerzen. Meine Lehrer meinten immer, dass ich ihnen etwas vormache. Sie behaupteten, ich wollte damit Aufmerksamkeit schinden oder eine Klassenarbeit schwänzen. Eine Schulkrankenschwester glaubte mir und ließ mich von einem Arzt untersuchen. Aber ich war ja ein Sozialfall, also beschränkte sich der Doktor darauf, mir in die Ohren zu leuchten und mich ›Ah‹ sagen zu lassen. Erst als ich auf dem Campus im College zusammenbrach, wurde mein Fall ernst genommen. Ich habe alle möglichen Programme und Tests durchlaufen, musste zu Migränespezialisten, zu Neurologen, ja sogar zu Psychologen. Keiner kann sagen, woher die Kopfschmerzen rühren, aber worüber sich alle am meisten wundern, sind die visuellen und akustischen Erscheinungen, die manchmal mit den Anfällen einhergehen.«
Die Lichtung, durch die sich der Fluss wand, lag im fahlen Mondlicht; die Felsblöcke, die Weidenbäume und das plätschernde Wasser trugen einen silbrigen Ton. Es schien so, als ob alle Farbe aus der Welt gewichen wäre und nur noch gespenstische Schatten herrschten. »Was für Erscheinungen?«, fragte Jared und bemerkte, wie bleich Ericas sonnenwarme Haut im Mondlicht wirkte.
»Ich sehe Dinge. Manchmal höre ich auch Dinge.«
»Warum haben Sie mir nichts von den Träumen erzählt?«
»Ich wollte nicht, dass Sie über mich lachen.«
»Ich lache nicht.«
Sie schauten einander an. »Ich weiß.«
»Was sind das für Visionen?«
Erica rieb sich den Arm. »Der erste Anfall, an den ich mich erinnern kann, begann mit fürchterlichen Kopfschmerzen. Ich weiß nicht mehr, ob ich einschlief oder einfach wegtrat, auf jeden Fall sah ich plötzlich Tausende von Schmetterlingen im Klassenzimmer. Wunderschön, strahlend schön, sie flatterten
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