2001 Himmelsfeuer
ihrer Mutter? Zu jener Zeit, vor fünfundachtzig Jahren, belief sich die Zahl der mexikanischen Siedler auf ganze vier- undvierzig. So eine kleine Schar … Angela runzelte die Stirn. Aber nein, da standen auch noch andere Menschen, die sich etwas abseits der Feierlichkeiten hielten, ausdruckslose, stumme Zuschauer. Die Indianer. Sie hatten damals zu Tausenden hier gelebt. Wie viele waren von ihnen übrig geblieben? Ein paar hundert.
Dennoch gab es da eine Lücke in ihrem Gedächtnis, als ob sie noch etwas vergessen hätte.
Nachdem sie ihre Morgentoilette gemacht und sich mit Hilfe ihrer Zofe angekleidet hatte, ihre Frühstücksschokolade getrunken und ihr erstes Gebet verrichtet hatte, war sie sogleich in die Küche gegangen, weil sie sich dachte, dass dieses nagende Gefühl, etwas vergessen zu haben, mit den Vorbereitungen für das Festessen zusammenhing.
In Angelas großer Familie mischten sich inzwischen spanische, mexikanische und amerikanische Traditionen, und so mussten alle Geschmacksrichtungen berücksichtigt werden. Neben Tortillas, Tamales und Frijoles würde es spanische Fischgerichte und amerikanische Steaks geben. In der riesigen Küche mit ihren drei gewaltigen Kochherden, massiven Tischen und der großen Feuerstelle herrschte um diese frühe Stunde bereits emsiges Treiben. Indianerinnen waren am Kochen und am Tratschen, und die Luft war von exotischen Gerüchen und lautem Palaver erfüllt. Angela inspizierte das
puchero,
ein Schmorgericht aus in Lagen geschichteten Kalbsknochen, Fleisch, Gemüsen und Früchten, das stundenlang köcheln musste. Ein
puchero
durfte niemals umgerührt werden. Angela hob den Deckel ab und sah, dass das Gericht perfekt vor sich hin schmorte.
Nachdem alles in der Küche seinen bewährten Gang zu nehmen schien, grübelte Angela darüber nach, ob ihre Gedächtnislücke womöglich die Musikanten und die Tänzer betraf. Oder hatte sie vielleicht vergessen, jemanden einzuladen? Waren genug Stühle, Teller, Gartenlichter vorhanden? Obgleich diese Feier zu Ehren ihres Geburtstages veranstaltet wurde, bestand Angela darauf, sich persönlich um die Vorbereitungen zu kümmern.
Sie machte an einem der Fenster Halt und ließ den Blick über die dunstige Hügellandschaft schweifen. Der Frühling war vorbei, die Hochwasser vorüber, jetzt war es Sommer, die Zeit des Dunstes. Bald würden die Wüstenwinde einsetzen, die den Dunstschleier aufs Meer trieben und die Luft aufklaren ließen, und danach kam die Zeit der Brände, wenn die Berghänge in Buschfeuern loderten. Es lag ein gewisser Trost in der Wiederkehr der Jahreszeiten und dem geregelten Kreislauf der Natur. Gutes Kalifornien, dachte sie versonnen. Nur hin und wieder bebte die Erde, um die Angeleños daran zu erinnern, dass sie sterblich waren.
Angela wanderte weiter durch das Haus auf der Suche nach etwas, das die Lücke in ihrem Gedächtnis schließen würde. Sie blieb vor dem Zimmer stehen, das vor sechsunddreißig Jahren von Marina bewohnt wurde. Dort auf dem Bett hatte die Achtzehnjährige geweint und ihre Liebe zu einem Yankee gestanden. Seither hatte Angela nichts mehr von ihrer Tochter gehört, und in den folgenden sechsunddreißig Jahren war nicht ein Tag vergangen, an dem Angela nicht einen heimlichen Gruß über den fernen Horizont geschickt und ein stilles Gebet an die Heilige Jungfrau Maria gerichtet hätte, sie möge über Marina wachen und sie beschützen.
In dem langen Korridor kam sie an der Sitzgarnitur mit den vier antiken Polstersesseln vorbei, die Doña Luisa vor langer Zeit nach Kalifornien mitgebracht hatte. Der Seidenbrokat war abgewetzt und ausgeblichen, das Holzfurnier an Beinen und Lehnen wies Blessuren und Spuren von den Attacken unzähliger Enkel und Urenkel auf. Die Sessel waren als Hochzeitsgeschenk für Marina gedacht gewesen. Aber Marina war weggelaufen, die Sessel waren geblieben.
Angela fuhr gedankenverloren mit den Fingern über das antike Holz: Wir fünf sind gemeinsam aus Mexiko gekommen. Aber warum kann ich mich nicht mehr an die Reise von Mexiko hierher erinnern? Warum fangen meine Erinnerungen erst mit meinem sechsten Geburtstag an?
Angelas Gedankengänge wurden von Stimmen unterbrochen. Zwei ihrer Enkel kamen den Säulengang herunter. »Seit der Dürrezeit geht es mit dem Vieh nicht mehr so gut.« Diese Worte riefen eine andere Erinnerung in ihr wach. Vieh. Die fünfjährige Angela sieht Fremde auf der Hacienda ankommen mit erschreckend großen Tieren. Dieses Land war nicht für
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