2001 Himmelsfeuer
Auseinandersetzungen zwischen Stämmen, erklärte Marimi, seien selten und für gewöhnlich rasch beigelegt. Und in der Tat wirkten die Bewohner dieses Tals des Rauchs allgemein friedfertig und nicht aggressiv, im Gegensatz zu den kulturell hoch entwickelten Azteken, die vor ihrer Niederwerfung kämpferisch eingestellt und rachedurstig gewesen waren. Auch ein Vergleich mit seiner eigenen, der in Blut getauchten Geschichte der Europäer drängte sich Godfredo auf. War es etwa so, dass Fortschritt Feindseligkeiten heraufbeschwor?
Was ihm noch auffiel, war, wie ehrfürchtig sich das Mädchen dem Land gegenüber verhielt. Alles wurde geachtet und mit einem Ritual gewürdigt. Ehe Marimi eine Frucht vom Baum pflückte oder Wasser aus einer Quelle trank, ging dem zumindest ein schlichtes Zeremoniell in Form einer Bitte oder einer Anerkennung voraus. Godfredo hatte auch gesehen, dass die Indianer ein erlegtes Tier um Vergebung baten. »Geist in diesem Kaninchen, vergib, dass wir von deinem Fleisch essen. Mögen wir gemeinsam den Kreis des Lebens vollenden, das uns der Schöpfer aller Dinge gegeben hat.« Wie Marimi erklärt hatte, glaubte man, das gejagte Wild ergebe sich freiwillig, sofern der Jäger ihm mit gebührender Achtung entgegentrat.
Weil Marimi sich nicht weit von ihrem Stamm entfernen wollte und Godfredo nicht von der Küste, währte ihr Ausflug für die kartographischen Aufzeichnungen nicht allzu lange. Nach ihrer Rückkehr und Fertigstellung der Karte fing Godfredo mit der Niederschrift seiner Chronik an, von der er annahm, sie würde nach seiner Rückkehr in Spanien und ganz Europa Aufsehen erregen. Er überschrieb das Pergament mit
Hier beginnt die Chronik und Geschichte meines Aufenthalts unter den wilden Indios von California.
Und er ging mit einem derartigen Eifer ans Werk, dass für andere Gedanken kein Raum blieb, schon weil er hoffte, dadurch einem Schicksal zu entrinnen, das schlimmer war, als auf einer Holzplanke im Meer ausgesetzt zu sein: Es gelüstete ihn nach einem Mädchen, das gelobt hatte, ein Leben lang keusch zu bleiben.
Da es nichts an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verzeichnen gab, begann er mit der Heilkunst, notierte die Heilmethoden und Rituale, denen beizuwohnen Marimi ihm gestattete. Bei einem zahnenden Säugling nahm sie Blütenblätter der Heckenrose, trocknete sie, kochte sie dann auf und bestrich damit das Zahnfleisch des Kindes. Zur Behandlung von Gelbsucht kämmte sie sich das Haar über der noch kochend heißen Eichelsuppe, sodass die Läuse in die Suppe fielen. Godfredo war beeindruckt, entsprach dies doch den Gepflogenheiten in Spanien, wo jeder wusste, dass mit Läusen versetztes Trinkwasser das beste Mittel gegen Leberleiden war.
Er bekam auch Behandlungsmethoden mit, die nicht so eindeutig umrissen oder wissenschaftlich zu begründen waren – wenn nämlich Kräuter und Medizinen nichts halfen und Zauberkräfte herangezogen werden mussten. Godfredo wusste, dass es nicht die »Kraft« in der Adlerfeder war, die Heilung brachte, oder die Reißzähne des Kojoten oder die Haut der Klapperschlange, sondern der unerschütterliche Glaube des Kranken in die Heilende und der Heilenden an sich selbst. Wenn beide fest daran glaubten, Marimi werde den Patienten gesund machen, trug die positive Einstellung des Patienten zur Genesung bei. Dieses Verfahren nötigte Godfredo direkt Bewunderung ab. Wenn es doch in Europa ebenso sein könnte, wo die meisten Ärzte Scharlatane waren! Und wenn der Wille des Kranken nicht ausreichte, dann trug der Wille des Clans zur Heilung bei – dieses Wunder konnte Godfredo bezeugen: Eines Tages wurde ein von einem Speer durchbohrter Seehundfänger an Land gebracht. Die Wunde eiterte, und der Verletzte hatte hohes Fieber. Marimi entzündete mit dem entsprechenden Ritual ein Lagerfeuer neben dem Sterbenden, seine erste Familie bildete einen engen Kreis um ihn, dahinter seine zweite Familie, bestehend aus Cousins, Onkeln und Tanten. Jetzt klapperte Marimi mit Rasseln in die vier Hauptrichtungen, rief deren Macht an. Sie sang den Mond an. Sie verteilte zerstampften Seetang über dem Körper des Mannes und malte ihm mit Seehundfett und Farbe geheimnisvolle Symbole auf die glühende Haut. Dann hielt sie einen Stein, auf dem Abbildungen von Hundertfüßlern eingeritzt waren, erst dem Mond, dann den vier Winden entgegen, ehe sie einen Klumpen heißes Harz auf den Stein tropfte und dadurch die Abbildungen der Hundertfüßler, Symbole des Todes,
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