2004 - Im Bann der NACHT
berührte die Gehirntentakel des Toten mit ihren eigenen. Dann ging sie schnell aus dem Zimmer. Crom wußte, warum.
Sie wollte ihn ihre Tränen nicht sehen lassen.
„Sie hat dich geliebt, Vater", sagte er, wobei er die Hände des Toten hielt. Er konnte die Tränen ebensowenig zurückhalten. „Und ich habe dich auch geliebt. Du wirst uns sehr fehlen. Ich weiß, daß du mich Dinge hast sehen lassen, die keinem Kind von 35 Segaf hätten zugänglich gemacht werden dürfen.
Und ja, ich werde versuchen, dir gerecht zu werden. Ich werde weiterforschen und nicht ruhen, bis ich die Geheimnisse der NACHT enträtselt habe. - Das verspreche ich dir."
Er hielt noch eine Weile die Hände des Toten. Dann ließ er sie los und stand auf. Wie benommen trat er aus dem Medo-Zimmer hinaus auf den weiß erleuchteten Korridor und suchte nach seiner Mutter. Er fand sie nicht. Und niemand wußte, wohin sie gegangen war.
An diesem Abend, nachdem er immer noch nichts von seiner Mutter gehört hatte, begab sich Crom nach Nacht-Acht 6, zu Yessim. Er mußte einfach mit jemandem reden, und Yessim hörte sich geduldig an, was er zu sagen hatte. Crom schüttete sein ganzes Herz aus. Am Ende fragte er, ob Yessim am anderen Tag mit zur Bestattungszeremonie für seinen Vater gehen würde.
Yessim stimmte sofort zu, wobei er einen beklommenen Eindruck machte.
„Was hast du denn?" fragte Crom.
„Hast du noch nichts gehört? Ich meine, in den Nacht-Acht-Infos? Im Netz?"
„Nein", sagte Crom.
„Es gibt 350.000 Mom'Serimer", sagte Yessim. „Täglich sterben einige, und einige neue werden geboren. Das ist keine Sensation. Sterbefälle werden normalerweise erst dann gemeldet, wenn der Verstorbene prominent ist, ein nützliches Mitglied unserer Gesellschaft."
„Was willst du damit sagen?" fragte Crom.
„Daß ich mir die aktuellen Nachrichten im Netz angeschaut habe. Hast du es wirklich noch nicht gehört?"
„Nein, Yessim! Was denn?"
„Dann tut es mir leid, daß ich es dir sagen muß. Deine Mutter ist deinem Vater gefolgt. Sie hat sich umgebracht, weil sie ohne ihn nicht mehr leben wollte."
Das war ein Schock für Crom.
Seine Eltern hatten seine ganze Kindheit über und für einen Teil seiner Jugend getrennt gelebt. Aber sie mußten sich dennoch sehr geliebt haben. Früher wäre ihm das unvorstellbar gewesen, aber nun...
Der junge Mom'Serimer faßte sich. Vor allem wollte er jetzt allein sein.
„Wir sehen uns dann morgen, Yessim, in Nacht-Acht 3", sagte er, als er aufstand und zur Tür ging.
„Ja", bestätigte Yessim. „Morgen."
Crom verließ die Wohnung von Yessims Eltern und fühlte sich unendlich leer.
*
Am anderen Morgen trafen sie sich in Nacht-Acht 3, wo in den Kavernen des Planetoiden die ergreifende Bestattungszeremonie abgehalten wurde. Das Licht war gedämpft, und man hörte leise, frohe Musik. Denn eine Bestattung war in Nacht-Acht nichts Trauriges. Sie war der Übergang von einem Leben zum anderen. Nur der Tod, das Sterben selbst, war grausam. Aber das hatten Croms Eltern ja hinter sich. Und er hatte das Abschiednehmen hinter sich gebracht. Was jetzt folgte, ertrug er mit Fassung.
Anwesend waren außer ihnen nur wenige Freunde der Familie und Arbeitskollegen. Beide Partner hatten keine lebenden Geschwister mehr gehabt. Nur deren Kinder waren gekommen.
Dies war die erste Bestattung, der Crom beiwohnte. Um so erstaunter war er, viele Eunuchen zu sehen, die Wächter und Anführer seines Volkes, die alle wichtigen Entscheidungen trafen. Über ihnen stand nur der Lord-Eunuch als oberster Führer.
Eunuchen, so hatte Crom es von den Indoktrinatos ebenfalls gelernt, hatten sich vor dem Eintritt in ihren Stand, für den sie mindestens 179 Segaf alt sein mußten, operativ ihre Hormon-Drüsen entfernen zu lassen. So konnte es nicht mehr zum Ausbruch der Geschlechtsfähigkeit kommen. Sie konnten nicht riskieren, daß ein plötzlich hereinbrechender Geschlechtswechsel ihre Entscheidungen beeinträchtigte.
Crom fragte sich, ob er auch den Lord-Eunuchen zu sehen bekommen würde. Er kannte dieses geheimnisvolle Wesen nur vom Holo her. Der Lord-Eunuch lebte zurückgezogen in Nacht-Acht 1 und meldete sich nur dann zu Wort, wenn es um wirklich wichtige Entscheidungen ging.
Crom schalt sich einen Narren zu glauben, daß er wegen dem Tod seiner Eltern Nacht-Acht 1 verlassen würde. So wichtig waren sie auch wieder nicht gewesen in einer Gesellschaft, wo jedes Individuum in erster Linie nach seinem Nutzen beurteilt
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