2004 - Im Bann der NACHT
beiseite und zog sich aus. Dann überwand er sich, in das mächtige Bett zu steigen, in dem noch eine Nacht vorher der alte Lord-Eunuch geschlafen hatte.
Er konnte es nicht. Nach kurzer Zeit stand er auf und legte sich neben dem Bett auf den Boden. Es dauerte lange, bis er endlich Schlaf fand. Und dann träumte er von Yessim und sich und vom alten Lord-Eunuchen. Vieles verwob sich, es war ein irrealer Traum, und Crom erwachte einige Male mit bebenden Gehirntentakeln.
Schließlich glitt er doch noch in einen ruhigeren, traumlosen Schlaf und erwachte erst am Morgen, als die Pflicht rief.
Der alte Lord-Eunuch mußte bestattet werden, und er, Crom, mußte die Abschiedsrede auf ihn halten.
Diesmal konnte kein einfacher Eunuch es tun, so wie bei normalen Sterblichen. Es war seine Aufgabe.
Nur was er sagen sollte, das wußte Crom immer noch nicht.
*
Innerhalb von Nacht-Acht herrschte eine bedrückende Trauer. Der Lord-Eunuch, obwohl aus der Anonymität heraus wirkend, war beliebt und geachtet gewesen. Er hatte Nacht-Acht über eine halbe Generation hinweg geleitet und geführt. Sein Nutzen für die Gemeinschaft, der Gradmesser jeden Lebens, war hoch gewesen.
Nur daß ESTARTU während seiner Regentschaft nicht wiedergekehrt war, fehlte ihm an der völligen Erfüllung seiner Existenz.
Crom wußte jetzt, daß er daran seine Ansprache orientieren und gleichzeitig ein Plädoyer für die Optimisten der Nacht halten würde.
Ganz in Weiß gekleidet, betrat er in Begleitung von zwölf Eunuchen die Bestattungskaverne von Nacht-Acht 3.
Inzwischen wußte jeder in Nacht-Acht, daß er der neue Lord-Eunuch war. Seine Zweifel waren an diesem Tag wie verschwunden. Er konzentrierte sich nur auf seine neue Aufgabe - die Rückgabe des alten Lord-Eunuchen an den Kreislauf des Lebens.
Gedanken konnte er sich später wieder machen. Zu allen Dingen...
Der alte Lord-Eunuch lag in seinem Stahlsarg, der auf die Antigravschienen vor dem Konvertertor gebettet war. Crom stand hinter ihm und bereitete sich auf seine Rede vor. Er wußte, daß die Zeremonie in ganz Nacht-Acht übertragen wurde.
„Beginnt mit der Zeremonie!" sagte Crom zu den Eunuchen.
Einer von ihnen, der gleiche, den er von der Bestattung seiner Eltern her kannte, trat vor und nannte den Namen des alten Lord-Eunuchen. Dann zählte er dessen Verdienste um die Gemeinschaft auf. Es wollte kein Ende nehmen. Dann aber, als er fertig war, trat er zurück, und das war das Zeichen für Crom.
Der neue Lord-Eunuch trat einen Schritt vor und blickte einige Augenblicke lang schweigend auf den Sarg. Dann richtete er sein Haupt auf und die Blicke in die Kameras.
„Mom'Serimer!" begann er. „Yankhar, der alte Lord-Eunuch, ist von uns gegangen. Was er in seiner Amtszeit geleistet hat, das habt ihr soeben gehört. Was mir bleibt, ist hervorzuheben, was immer seine Ziele und Ideale gewesen sind, auf daß ESTARTU mir die Kraft gebe, sein Wirken in seinem Sinne fortzusetzen."
Er machte eine Pause. Dann fuhr er fort: „Yankhar hat sein Leben lang auf die Rückkehr ESTARTUS gehofft. Er wurde nicht müde, darum zu beten. Leider blieb ihm dieses Erlebnis versagt, doch sein Glaube an eine Wiederkehr der Superintelligenz wird in mir weiterleben. Ich werde an seiner Stelle auf ESTARTU warten. Und ich bin mir sicher: Wenn ich es nicht erlebe, erlebt es mein Nachfolger oder dessen Nachfolger. ESTARTU lebt und hat uns nicht vergessen! Sie wird uns in der Stunde der Not beistehen, wenn die Raumer der schrecklichen Mundänen den Weg hierher finden."
Unerwartet erhielt er Applaus von einem Teil der hier versammelten Eunuchen. Andere hielten sich zurück und versuchten, ihre Feindseligkeit zu verbergen.
Crom registrierte es genau und wußte, woran er war. Aber das schreckte ihn nicht ab.
„Wartet auf ESTARTU!" appellierte er an seine 350.000 Zuhörer. „Wartet auf die Superintelligenz!
Sie wird mächtiger denn je zurückkehren und uns vor den Mundänen beschützen! Schließt euch den Optimisten der Nacht an!"
Damit beendete er seine Rede. Garbam, der Eunuch, kam und flüsterte ihm zu: „Du bist vielleicht etwas zu weit gegangen, Hoher Lord-Eunuch. Auch dein Vorgänger war ein Optimist der Nacht, aber er hat niemals ihre Position so vertreten, wie du es getan hast."
„Dann hat sich das jetzt eben geändert", sagte Crom. „Garbam, du warst mir immer ein guter Berater, und ich schätze deine Meinung auch jetzt sehr. Aber es ist Zeit, Zeichen zu setzen. Ich kann nicht dulden, daß sich
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