2009 - komplett
setzte sich an den Tisch. Die Leere, die sie in sich fühlte, hatte jedoch nichts mit Hunger zu tun. Sie hatte keinen Appetit auf Brot und Käse, noch auf eine Unterhaltung. Selbst Honorias ausgezeichnetes Bier reizte sie nicht.
„Onkel Ian war nicht bei der Messe“, verkündete die kleine Kit, während sie ihr Morgenmahl einnahm.
„Nein, mein Schatz. Ich habe gesehen, wie er kurz vor der Messe nach Dunniegray zurückgeritten ist“, unterrichtete Lady Honoria ihre Tochter.
Die Unterlippe des Kindes begann zu zittern. „Aber er hat doch gar nicht auf Wiedersehen gesagt! Das tut er immer! Und schwingt uns im Kreis und sagt, dass er bald wiederkommen wird. Jetzt wird Adam bestimmt weinen.“ Sie schniefte tapfer, während sie ihre eigenen Tränen unterdrückte. „Er wird bald wiederkommen, nicht wahr, Mama?“
„Ich glaube, euer Onkel Ian hatte dringende Geschäfte zu erledigen“, sagte Honoria und strich Kit über die glänzenden roten Locken. „Und du weißt doch, dass er nie lange fortbleibt.“
Juliana war sich nicht so sicher, ob er sie noch einmal besuchen würde. Zumindest so lange nicht, wie ihm ihre Anwesenheit Unbehagen bereiten würde. Sie wollte nicht die Enttäuschung auf dem Gesicht ihrer kleinen Cousine sehen und wandte sich ab, denn sie spiegelte ihre eigene wider. Auch wenn Ian das Klügste getan hatte, indem er eine Distanz zwischen ihnen schaffte, wusste sie, dass sie ihn schrecklich vermissen würde.
Wie konnte sie nur so starke Gefühle für einen Mann hegen, den sie nur einen Tag lang kannte? Und eine Nacht natürlich. In dieser kurzen Zeit war so viel zwischen ihnen geschehen, Dinge, die nie hätten geschehen dürfen. Verworfene Dinge, die sie jedoch nicht bereuen konnte, so sehr sie sich auch bemühte. In der Kapelle hatte sie es wirklich versucht.
Es stimmte, sie wussten nur wenig voneinander. Aber was sie erfahren hatten, war mehr, als die meisten Paare voneinander wussten, die sich an ein und demselbem Tag trafen, heirateten und einander beilagen. Was sie empfanden war mehr, als einige Menschen fühlten, die schon jahrelang miteinander lebten. Wie hatte es dazu kommen können? Sie blickte in ihren Becher, als könnte sie darin eine Antwort erkennen.
Was hatte Ian Gray an sich, das sie so tief berührte? Gleich das erste Mal, als sie ihn in der Toreinfahrt gesehen hatte – klatschnass vom Regen und fröhlich grinsend, als hätte er keine Sorgen auf dieser Welt –, berührte er ihr Herz. Wie glücklich hatte er ausgesehen, als er sie erblickte. Gerade so, als wüsste er, was zwischen ihnen geschehen würde.
Juliana fragte sich, ob sie ihn überhaupt begrüßt hätte, hätte sie zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, wohin das Ganze führen würde. Ja, entschied sie schließlich, sie hätte es getan. Und sie hätte auch kein bisschen anders gehandelt, ihre Täuschung und alles andere eingeschlossen.
Da sie sich ihn nur als Liebhaber für eine einzige Nacht erwählt hatte, hatte Ian sich als eine wunderbare Wahl herausgestellt. Soweit sie sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass sie sich umsorgt gefühlt hatte. Und wenn er das auch nur getan hatte, um die Aufmerksamkeit einer Frau zu wecken, die er für eine reiche Erbin hielt, so war ihr das egal. Er hatte seine Rolle ausgezeichnet gespielt.
Während der nächsten Wochen behielt Juliana ihre Gefühle, die sie für Ian empfand, für sich. Träume von ihm versüßten ihre Nächte. Am Tag stürzte sie sich in Arbeit und kümmerte sich darum, Vorräte für die Wintermonate anzulegen.
Die Ernte war eingebracht. Bald würde das Wetter es unmöglich machen zu jagen.
Fleisch musste geräuchert oder eingepökelt, Früchte und Bohnen getrocknet, verpackt und gegen Würmer geschützt werden.
Jeden Tag arbeitete sie lang und hart Seite an Seite mit den Bediensteten von Byeloughs. Sie hatte das Gefühl, sich genauso wie die anderen ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Sie wusste sehr gut, dass sie nicht hätte zu arbeiten brauchen.
Alan und Honoria würden ihr das Leben einer Dame bieten und ihr keinen Bissen missgönnen, ob sie jetzt einen Finger bei der Vorbereitung der Vorräte rührte oder nicht. Ihr Stolz ließ sie jedoch weiterarbeiten, selbst wenn ihr Körper bereits erschöpft war.
Entschlossen versuchte sie, all ihre Gedanken auf die Aufgaben zu konzentrieren, die vor ihr lagen. Sie hoffte, so die Erinnerung an dunkelbraune Augen voller Zärtlichkeit und Resignation verbannen zu können. Manchmal gelang ihr
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