2012 – Das Ende aller Zeiten
sein Tod bevorstand, das hatte ich schon vor einer ganzen Weile beschlossen. Wer in die Luft gesprengt oder in den Hinterkopf geschossen wird oder was auch immer, bemerkt kaum etwas. Welchen Sinn hat es dann?
»Eines nach dem anderen«, sagte No Way.
»Ernsthaft, was meinst du, wie teuer es wird?«
»Fünf Dollar.«
»Klar.«
»Und nein, ich mach es nicht.« Er nahm einen langen Zug, bei der mehr als die halbe Zigarette verbrannte, und den Rest drückte er an der Wand eines handgroßen Feuerlöschers aus.
»Ich will gar nicht, dass du es machst«, erwiderte ich, »ich möchte, dass du schön gesund bleibst und mir auch beim Nächsten hilfst.« Und ich hoffe nur, dass die Welt noch für mehr als neun Monate existiert, damit ich meine schreckliche Rache üben kann. Danach ist sowieso alles egal.
Am anderen Ende des langen Raumes schaltete jemand eine Lampe ein. Ich bemerkte erst jetzt, dass der Regen vorübergezogen war und es draußen dunkel wurde. No Way lehnte sich zurück und schloss die Augen, wie es, so erinnerte ich mich, seine Gewohnheit war. Ich ging in den Monitorbereich. Auf den Bildschirmen stand: T – 5:49. Keine sechs Stunden mehr, und ich startete. Ich sollte das ganze Prozedere noch einmal durchgehen, dachte ich. Marena kam zu mir.
»Gehen wir ein Stück«, sagte sie.
»Gern«, sagte ich. Ana erschien neben Marena und flüsterte ihr ins Ohr. Offensichtlich schärfte sie Marena ein, mich nicht weglaufen zu lassen. Ich wandte mich zur Tür. »Ich habe ihn im Griff«, antwortete Marena wahrscheinlich. Ich schob mich durch die Klappe.
Marena folgte mir. Hält mich an der Zweimeterleine, dachte ich. Als hätte ich keinen Peilsender im Ohr. Als könnte ich mich davonschleichen. Na ja, man konnte es ihnen nicht verübeln. Ich war schon jetzt die größte Investition, die irgendjemand von ihnen je gemacht hatte. Millionen und Abermillionen Dollar, bloß um elektronisch mein Gehirn zu durchkämmen.
Marena ging vor mir und suchte sich ihren Weg auf dem Hirschpfad, der zum Fluss führte. Ich wollte schon die Taschenlampe aus der kleinen, mit dem Gütesiegel von ES versehenen Überlebensausrüstung nehmen, da bemerkte ich, dass ich noch sehen konnte. Der Weg lief zwischen diesen dünnen, geschlängelten ixnich’i’zotz- Bäumen hindurch, und man konnte leicht über ihre Wurzeln stolpern. Ixnich’i’zotz bedeutet so viel wie palo de colmillos de murciélago , also »Fledermauszahnholz«. Man nennt sie so, weil ihre kleinen Früchte zwei gezähnte Stacheln aufweisen, und die alte Stadt – kurz Ix – war nach ihnen benannt. Das Unterholz unter meinen Schlangenlederstiefeln war feucht. ES hatte in der Biegung des Flusses ein Boot unter den Büschen am Ufer versteckt, und ich setzte mich darauf. Noch war es nicht völligdunkel, aber das Wasser sah schwarz aus. An dieser Stelle durchmaß der Fluss nur zehn Meter, daher flößte er mir keine Furcht ein. Der Chor der Insekten war verstummt, aber es kam mir so vor, als würde noch etwas fehlen.
Marena setzte sich neben mich, doch ohne mich zu berühren. Ganz untypisch hätte ich es beinahe nicht bemerkt.
»Fühlst du dich wohl?«, fragte sie.
»Ja, alles prima, danke«, antwortete ich, aber wahrscheinlich klang ich ziemlich abweisend. Sie legte mir vielleicht eine halbe Sekunde lang die Hand auf die Schulter.
»Du hyperventilierst«, sagte sie.
»Na ja, normalerweise infraventiliere ich.«
»Warst du hier schon schwimmen?«, fragte sie.
»Nein.«
»Ich war heute Morgen. Es ist toll. Michael hat das Wasser als krokodilfrei zertifiziert. Und piranhafrei.«
»Das leuchtet mir ein«, entgegnete ich. »Immerhin leben Piranhas auf einem anderen Kontinent.«
»Das ist sehr gut.« Sie trug eine Art Ober- und Unterteil und wand sich nun hinaus. Holla! Quieto nerón.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht verlegen machen.«
»Ach was«, sagte ich. Ich versuchte nicht zu glotzen und gleichzeitig auch nicht wegzuschauen, denn das wäre genauso dämlich gewesen. »Verlegen bin ich immer.«
»Komm bloß nicht auf Ideen.« Sie balancierte auf einem Fuß und zog sich kaum vorhandene Unterhosen aus – nun, »Hosen« zu sagen ist eigentlich übertrieben. Ihr Körper war sexy, wenn man ihre Ethnie mochte, zierlich und doch ein bisschen stämmig, aber gerundet, und sie zeigte sich mit der Unbefangenheit einer europäischen Aristokratin, wie … ach Mensch, bitte, werde erwachsen, wir sind hier alle Erwachsene. Aber natürlich stimmt das so auch nicht. Sie
Weitere Kostenlose Bücher