2012 – Das Ende aller Zeiten
anderen Weg als 3-Heimkehrende-Motte. Er würde ungefähr in diesem Augenblick im Haus der Seidenweberinnen eintreffen. Koh sollte ein wenig Zeit haben, ihm zuzuhören. Ihm zuzuhören und zu weinen. Ich entdeckte eine große Hakennasen-Natter, die sich auf der niedrigen Mauer sonnte. Man achtete hier peinlich darauf, Squamata serpentes nicht zu behelligen, ähnlich wie man in Indien die Tempelaffen und heiligen Kühe in Ruhe ließ. Zum Ausgleich gab es nur sehr wenig Ratten in der Stadt und eine relativ hohe Anzahl von Todesfällen durch Schlangenbisse, die als gute Sache hingestellt wurden – denn wenn Ihnen so etwas zustieß, bedeutete es nichts anderes, als dass der Sternenrassler persönlich eines seiner Enkelkinder ausgesandt hatte, um Ihr Uay in die dreizehnte Schale zu holen.
Zwei »Häuserblocks« weiter südlich überschritten wir eine Art unsichtbarer Grenze und gelangten in ein Wohnviertel einheimischer Teotihuacáner. Der nordnordwestliche Teil der Stadt, aus dem wir kamen, beherbergte einige der reichsten Maya-Botschaften. Dennoch waren die Häuser älter und kleiner, und die ganze Gegend besaß Maya-Flair. Ich nehme an, so ist es in den ethnisch geprägten Vierteln jeder Stadt: Um den Vergleich mit New York beizubehalten: ungefähr so, wie wenn man in New York die Mulberry Street entlanggeht und auf der Canal die Grenze zwischen italienischem und chinesischem Viertel überschreitet. Drei unbeholfene Zu-Große, die weitab ihres Gebietes waren, traten aus einer Seitenarkade. Hun Xoc sprang zwischen sie und mich. Ich sah ihn durch die Maske dankend an.
Schon gut, äugte er zurück.
Weißt du, fuhr ich fort, ich vertraue diesem Linke-Yucca nicht.
Nur keine Sorge, sagte Hun Xoc mit Blicken. Wir sagen ihm nichts. Und ich behalte ihn im Auge wie einen Dieb.
Die Häuser waren hier größer und neuer, alle wenigstens zwei Geschosse hoch; sie bestanden im Erdgeschoss aus Stein und Gipsmörtel und im Obergeschoss aus verputzten Latten. Händler und Pilger gingen mit stillem Gruß an uns vorbei, stets in Gruppen von drei oder mehr Personen. Eine gewisse Verstohlenheit umgab sie, als hätten sie ähnlich heikle Aufträge zu erledigen wie wir. Wir passierten einen Trupp Unratsammler, die gebückt unter ihren großen, stinkenden Krügen gingen und uns demütig auswichen. Puma-Gardisten schritten in Fünfertrupps die Straßenmitte entlang. Angeblich packten sie gern Leute beim Kragen oder drangen in Häuser ein und beschlagnahmten alles, was als protzig betrachtet werden konnte.
In der Stadt herrschte eine einzigartige Stille. In Maya-Städtensang immer irgendjemand; hier wurde wahrscheinlich nur zu bestimmten Gelegenheiten gesungen. Deshalb hörte man Schritte und die Vögel und manchmal das Geräusch, wie Feuerstein abgeschlagen wurde oder das Ächzen von Steinsägen in Holz, aber sonst nicht viel, und die dicken Mauern verliehen allem einen steinernen Hall, der die Geräusche zu einer Art perlendem Brummen vermischte. Wie es schien, trug etwa die Hälfte der Leute Nasenstifte; die andere, vielleicht die etwas Konservativeren, zogen Schleier oder Masken vor. Vor mir aus, dachte ich. Mich hatte die Reisemüdigkeit ereilt, die man bekommt, wenn man in zu viele menschliche Gesichter geblickt hat. Die Leute sehen sich dann immer ähnlicher und wirken nicht mehr besonders interessant. Mit den Masken war es genauso. Es waren glatte, unbewegte Gesichter aus Baumrinde, die mit Gips und Leim behandelt war, oder aus der hiesigen Abart von Maispasten-Pappmaché in cremeweiß mit mandelförmigen Augen – nur das Wesentliche eines Gesichts ohne jeden Ausdruck, ohne erkennbares Alter, ohne Geschlecht und ohne ethnische Merkmale, nicht tot, aber auch nicht ganz lebendig. Umgeben von den Masken, den langen Mantas und der Stille – es gab hier keine Bäume oder Gras – war der Himmel über uns das einzige Natürliche, das man sehen konnte. Hier und da führte eine kleine Brücke über einen Kanal.
Als wir ein gutes Stück südlich der Hurrikan- mul waren, bogen wir nach links in Richtung Hauptachse. An der Ecke standen lässig fünf Puma-Gardisten, und 14s Sohn, Linke-Yucca, sprach akzentfrei Teotihuacánisch mit ihnen. Sie beachteten ihn kaum und musterten uns, als wir vorübergingen.
Wo sind denn die ganzen Miezen, fragte ich mich. Natürlich befanden wir uns in einer Zeremonienstadt, also wurde nach Geschlechtern getrennt. Doch selbst auf den Nebenstraßen sah man kaum eine Frau und nur wenige Kinder. Es war wie in
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