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2012 – Das Ende aller Zeiten

2012 – Das Ende aller Zeiten

Titel: 2012 – Das Ende aller Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian D’Amato
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Iris aussah wie die Aureole um eine verdunkelte Sonne. Der Hundertfüßer drehte den Körper des Äffchens mit raschen, zierlichen Bewegungen wie denen eines Harfenspielers herum und machte sich an dessen Magen. Ich schätze, dass es etwa eine Stunde und vierzig Minuten gedauert hat, bis von dem Äffchen nichts übrig war als ein Schmier aus Fell und Zähnen.
    Ich warf Koh einen Blick zu. Sie musterte mich mit dem einen Auge und hielt das andere auf den Hundertfüßer gerichtet. Holla, dachte ich. Es kann ganz schön irritierend sein, sich mit jemandem zu unterhalten, der ein latent schielendes Auge hat. Aber im Gegensatz zu jemandem, der daran leidet, konnte Koh offenbar ihre Augen unabhängig voneinander bewegen. Ich sah wieder auf das Spielbrett. Eine oder zwei Ewigkeiten lang geschah gar nichts. Als es mir gerade so vorkam, als sei alles zu Ende und wir würden mumifizieren, wo wir hockten, schien sich Koh zu regen. Ich sah zu ihr hoch. Nichts. Ich sah wieder auf den Hundertfüßer. Irgendetwas stimmte nicht.
    Der Skolopender erstarrte, als spüre er Feinde. Peitschend riss er den Kopf nach links und nach rechts herum, schnappte zweimal mitden Maxillen zu und schien in Panik zu geraten. Er rannte im Uhrzeigersinn, dann gegen den Uhrzeigersinn, über das rote Land, über das gelbe Land, hinaus ins achte B‘ak‘tun; dann bog er nach rechts ab und schoss ins schwarze Land, rannte über das weiße Land und das gelbe Land zurück, weit, weit über diese Zeit hinaus ins dreizehnte B‘ak‘tun, und vor und zurück, in die Vergangenheit, in die Zukunft, überquerte immer wieder die Gegenwart, bis er schließlich mitten im Nordquadranten an 14 Nacht versuchte, sich einzugraben, wobei er immer wieder gegen den Uhrzeigersinn herumwirbelte. Aus irgendeinem Grund ging mir ein Wort durch den Kopf: DURCHGEDREHT . Bei der achtundzwanzigsten Umdrehung schien er zu einer Entscheidung zu kommen und erstarrte mit erhobenem Schwanz. Seine Fühler zitterten. Seine Füße trommelten wahnsinnig schnell auf das Brett. Ein ixianisches Sprichwort besagt, dass man sich niemals schneller bewegt als in den Todeszuckungen.
    Der Hundertfüßer machte vier zögernde Schritte nach Norden, dann sechs langsame nach Südosten, und kam bebend auf einer Mulde zum Stehen, die durch die numerischen Steine 12 Hand, 5 Grün im siebten K‘atun des zwölften B‘ak‘tuns bedeutete, oder den 3. Dezember 1773. 1773 war das Jahr der Erdbeben, die Antigua zerstörten, als es noch die Hauptstadt Guatemalas war. Sollte ich es erwähnen? Oder wusste Koh es bereits? Ich beschloss, freiwillig gar nichts zu sagen. Der Skolopender bewegte sich wieder vor, torkelte, falls man auf zweiundvierzig Beinen torkeln kann, bis er an 2 ’Etz‘nab, 1 K‘ank‘in, 2 Obsidian, 1 Gelbe, zur Ruhe kam, zwei Tage vor dem Enddatum.
    Offenbar hatte das Äffchen ihn vergiftet, oder genauer: das, womit das Tier aufgezogen worden war. Der Hundertfüßer wand sich, ringelte sich zusammen, streckte sich wieder, warf sich auf den Rücken, rollte sich ein und wieder aus, warf sich auf den Bauch. Er biss sich in das Ende seines achtzehnten linken Beins. Stückchen aus weißem Fleisch quollen durch Risse in seinem Ektoskelett. Von seinen Giftzähnen sprühte ein Nebel, als er Neurotoxine in die Luft pumpte. Wieder warf er sich auf den Rücken und krallte an sich herum. Ein Schnitt öffnete sich mitten auf seinem Rücken und wurde breiter. Segment für Segment sprang seine Haut auf. Er häutete sich.
    Gliederfüßer häuten sich mit Hilfe peristaltischer Wellen. Eine sich häutende Spinne sieht wie eine Hand aus, die sich aus einem Handschuh hinausschiebt. Ein Hundertfüßer spannt und entspannt sich abwechselnd, ein wenig wie ein Fuß, der einen Pantoffel abstreift. Normalerweise enthüllt die Häutung ein komplettes, frisches Ektoskelett, und es ist, als wäre das Tier neu geboren worden. Ich erinnerte mich, dass jemand – vielleicht meine Mutter, vielleicht Schakals Mutter – gesagt hatte, wir würden ewig leben, wenn wir unsere Häute ablegen könnten.
    Diesmal jedoch versuchte der Skolopender sich zu häuten, obwohl er gar nicht bereit war. Unter der Haut, die er abstreifte, befand sich keine neue Haut, nur nacktes, ungeschütztes Gewebe, das Bläschen aus Hämolymphe abgab. Im Grunde häutete er sich selbst bei lebendigem Leibe. Offensichtlich unter großen Schmerzen warf er sich auf dem Steinbrett hin und her. Späne aus Chitinhülle lösten sich ab und fielen mit Fetzen weißen

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