2012 – Das Ende aller Zeiten
Das Affenbaby erstarrte. Etwas lag in der Luft.
Was die Größe anging, war der Hundertfüßer im Vorteil. Andererseits habe ich schon gesehen, wie Affen Schlangen töten. Und wenn das Äffchen beschloss, nicht gegen den Hundertfüßer zu kämpfen, konnte es einfach wegspringen. Und der Hundertfüßer war blind. Deshalb vermutete ich, dass es für die Wirbellosen wieder einmal ziemlich düster aussah.
Das Äffchen drehte den Kopf nach links, nur ganz leicht, und der Hundertfüßer neigte den Zephalothorax, das Kopfbruststück, in die gleiche Richtung. Ich konnte kaum glauben, dass das Äffchen ein Geräusch gemacht hatte. Die Vorfahren des Hundertfüßers lebten jedoch seit Tausenden, wenn nicht Millionen von Jahren unter der Erde, und sie hatten gelernt, selbst die winzigsten Vibrationen wahrzunehmen.Ich war mir sicher, dass der blinde Skolopender den Affen auf der gegenüberliegenden Seite des Spielbretts spürte – und dass er mehr als nur seine Anwesenheit wahrnehmen konnte: Er spürte, was das Äffchen tat. Wieder geschah lange nichts; dann bewegte das Äffchen sich leicht nach links, erkundete einen möglichen Weg nach Süden. Der Hundertfüßer reagierte augenblicklich. Das Äffchen hielt inne und kroch vor. Ich zählte vier Herzschläge; dann setzte der Hundertfüßer sich in Bewegung. Zuerst strich er nur an Ort und Stelle über das Brett, dann kroch er au pas de loup nach Süden, wieder lotrecht zum Äffchen. In Wellen trafen die Krallen auf die Spielfläche, als würde ein Schlagzeuger auf einer Marimba Tonleitern spielen. Ich glaubte, das Scharren des Chitins auf Stein hören zu können, sogar Unterschiede zwischen den einzelnen Gliedmaßen. Der Skolopender gelangte an den Rand des stehenden Steins für »Heute«. Die Fühler tasteten an der Kante entlang. Ich dachte an das Foto von Marena, das ich gesehen hatte, auf dem sie die Felswand erkletterte und über dem Kopf nach Rissen tastete. Das Äffchen schlich näher heran. Der Hundertfüßer glitt wieder vorwärts, bewegte sich auf jene seltsame Art, die aussieht, als kaue er sich einen Weg durch den Raum; dann erstarrte er wieder und schmeckte mit den Fühlern in der Luft. Er sah aus wie ein offenes Maul mit den Zähnen an der Außenseite, das blutige Grinsen eines Cheshire-Jaguars. Das Äffchen machte einen kleinen Satz nach links und kam aus dem Schutz des stehenden Steins hervor.
Der Hundertfüßer erstarrte.
Das Äffchen sah ihn. Es hielt vollkommen still.
Wusste es, was es da vor sich hatte? Instinktiv fürchten und verabscheuen alle Säugetiere lange, segmentierte Wesen. Andererseits fressen Affen, auch Fructivoren wie dieser kleine Kerl, eine Menge Insekten. Und das Äffchen sah nicht nur hungrig aus, es war eindeutig unterernährt. Es kniff die Augen zusammen, und an der Gier, die sich darin spiegelte, war zu erkennen, dass es vor Hunger alles angreifen würde, was Fleisch hatte. Würde es den Hundertfüßer beim Schwanz packen und mit dem Kopf gegen den Stein peitschen? Oder würde es ihn immer wieder mit der Pfote schlagen, bis er tot war, so wie es ein Fuchs mit einem Skorpion macht?
Es musterte den Hundertfüßer. Der kroch wieder weiter, sehr vorsichtig, gelangte in den gelben Quadraten und rückte im Uhrzeigersinn zum roten vor. Der angespannte Leib des Äffchens regte sich nicht, doch sein Blick verfolgte den Skolopender. Der Hundertfüßer gelangte in die rote Zone. Das Äffchen verlagerte sein Gewicht. Plötzlich, zu schnell, als dass das Auge der Bewegung folgen konnte, schoss der Hundertfüßer vor. Das Äffchen sprang zur Seite, fast rückwärts, und kauerte sich hinter ein Steinhindernis. Der Hundertfüßer wurde langsamer und fuhr herum.
Die Situation war verfahren. Ich zählte fünf Schläge, dann zehn. Das Äffchen kroch rückwärts, hielt den stehenden Stein zwischen sich und seinem Gegner. Bei Schlag vierzehn löste sich die Szenerie in Getümmel auf. Die Kämpfer jagten viel zu schnell über das Spielbrett, als dass ich ihren Bewegungen folgen konnte – wie Flipperkugeln, die zwischen Prellern gefangen sind, oder ein Video von subatomaren Partikeln, die in der Nebelkammer herumflitzen. Ich hatte den Eindruck, dass das Äffchen den Hundertfüßer jagte. Immer rund um den Essigstrauch, dachte ich, denn im nächsten Moment sah es aus, als jagte der Hundertfüßer das Äffchen gegen den Uhrzeigersinn. Mit jedem Kreis war der Hundertfüßer dem Äffchen näher als zuvor. Das Äffchen eilte ins Rot, der Hundertfüßer
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