2012 – Das Ende aller Zeiten
Fleisches an den Unterseiten zu Boden. Die Bauchseiten der beiden letzten Segmente schienen sich zu bewegen oder vielleicht zu kneten, dann fielen sie auseinander … doch die Teile bewegten sich ebenfalls, nein, es waren kleine Wesen, die sich bewegten, Maden vielleicht? Nein, es waren Hunderte winziger, durchscheinend weißer Hundertfüßer, jeder nur etwa von der Größe eines Stücks getrockneter Kokosraspeln aus einem altmodischen Speiseeis-Schneeball, wie es sie zum Nachtisch gab. Ich glaubte mich zu erinnern, dass Skolopender Eier legten, doch offenbar war diese Art in dieser Hinsicht anders. Die kleinen Kerle krochen sich windend auseinander und scharten sich um die Klumpen vom Fleisch ihrer Mutter, wo sie die Flüssigkeit aufnahmen. Schließlich krümmte die Mutter sich zu einem Ring zusammen und kaute an sich, bis sie bloß noch eine feuchte Masse an 9 Schädel, 11 Wind im weißen Quadranten des Bretts war. Lediglich ihre Fühler bewegten sich und zeichneten langsam Achten in die Luft. Innerhalb weiterer tausend Schläge waren auch die Kleinen gestorben. Kohs Hand senkte sich aus dem Himmel herab und nahm den zerfetzten Hundertfüßer auf – er war so steif wie ein verbrannter Streifen Frühstücksspeck. An seine – ihre – Stelle setzte sie den opalenen Läufer. Mit einem frischen Baumwolllappen nahmsie die Überreste des Äffchens und die Einzelteile des Hundertfüßers auf. Die Zwergin hielt ihr ein Kästchen aus Ton hin. Koh wickelte die Überreste beider Tiere in das Tuch, legte das Bündel in das Kästchen und sprach in zwei Sprachen kurze Worte. Die Zwergin nahm das Kästchen fort, vermutlich, um es in Ehren zu bestatten. Ehe ich wusste, was sie tat, hatte Koh bereits begonnen, die Schädel, die Steine also, in die Mulden zu legen, in denen die Tiere gewesen waren, und zählte erneut in dieser alten, uralten Sprache. Mehrere Minuten schien sie zwischen jedem Stein und dem nächsten verstreichen zu lassen, und ich musste mich immer wieder erinnern, dass sie sich mit normaler Geschwindigkeit bewegte und ich nur schneller dachte.
Dennoch war der eigentliche Kampf zwischen den beiden Geschöpfen so schnell abgelaufen, dass ich ihn kaum hatte beobachten können. Doch Koh hatte nicht nur alles gesehen, sie erinnerte sich vollständig an die gewundenen Wege, die Hundertfüßer und Äffchen genommen hatten, und zeichnete sie mit einer Kette von Markierungen nach, indem sie unterschiedlich geformte Kiesel an den Stellen unterschiedlicher Ereignisse benutzte, einen flachen ovalen Stein an der Mulde, wo der Hundertfüßer das Äffchen gebissen hatte, einen Keil, wo das Äffchen gestorben war, und eine nahezu perfekte Kugel an der Stelle, wo den Skolopender der Tod erteilt hatte. Es war eines der einzigartigsten mentalen Kunststücke, die ich je gesehen hatte, und ich kannte eine Menge. Für mich hatte die ganze Angelegenheit zu achtzig Prozent aus verschwommenen Bewegungen bestanden. Ich wette, Koh hätte sich ein zehnminütiges Video von Billardkugeln ansehen können, die auf dem Tisch umherflitzten, und wäre anschließend in der Lage gewesen, jedes Einzelbild aufzuzeichnen.
Am Ende klopfte sie fünfmal auf das Brett und leerte einen Beutel mit kleinen Steinen unterschiedlichen Aussehens. Jeder stand für einen Planeten oder hellen Stern. Sie wählte die Zeichen der Gestirne aus, die gegenwärtig über uns standen, und tat die übrigen zurück. Auf dem Brett legte sie den Sternenhimmel aus, der heute zu sehen wäre; der Letzte Herr der Nacht neigte sich gegen Westen und zur Geburt von Sonnenbezwinger, also der Venus, im Osten. Der Stein, den sie für den Mond benutzte, war ein glatter kugelförmiger Hydrophan,ein Milchopal. In Europa nannte man ihn während des Mittelalters das Weltauge.
Koh sprach:
»Schwarzwärts nun grüße ich die Höhle der Toten,
Gelbwärts nun grüße ich die Höhle der Atmenden,
Rotwärts nun grüße ich die Höhle der Ungeborenen,
Weißwärts nun grüße ich die Höhle des Niemals.
Nun verstreue ich gelbe Samen, schwarze Samen,
Und nun verstreue ich
Weiße Schädel und rote Schädel,
Und das sei dein eigener blau-grüner Schädel,
Dein Namensvetter,
Und nun bewegen wir uns.«
Sie setzte einen grünen Stein auf das Brett und zog damit vor, marschierte hinunter nach Westen, hinauf nach Osten und zurück zur Kreuzung, hoch zur Seite des Krokodilbaums, auf die Rassel der Wolkenotter – die Plejaden –, auf der langen weißen Straße des Schlangenbauchs an den
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