2012 – Das Ende aller Zeiten
Freisetzung war wahrscheinlich ebenfalls recht ausgeklügelt gewesen und hatte wenigstens zwei 400-Liter-Drucktanks und anscheinend ferngesteuerte Regulierventile mit irgendeiner Art von rückkoppelndem Messwerk besessen. Bislang hatte allerdings niemand die Tanks gefunden oder auch nur das genaue Zentrum der Freisetzung gefunden; allerdings befand es sich mit ziemlich Sicherheit ganz in der Nähe von Lake Buena Vista.
Der Bericht fuhr fort, dass russische und kasachische Raffinerien im Moment etwa 100 Gramm Polonium-210 im Jahr produzierten, die vor allem zu medizinischen und antistatischen Zwecken Verwendung fänden. Die wenigstens dreißigfache Menge war über Orlando freigesetzt worden, eine Menge, die einen Marktwert von mehr als zweieinhalb Milliarden Dollar besessen hätte. Darin war nicht einmal die größere Menge des (billigeren) Isotops 209 eingerechnet, die zur gleichen Zeitabgeblasen worden war. Irgendjemand hatte in der Sowjetunion erheblich mehr Polonium produziert, als irgendjemand ahnte. Selbst wenn es billig hergestellt, selbst wenn es gegen etwas anderes eingetauscht und nicht bar bezahlt worden war, ja selbst, wenn Dr. X ein, sagen wir, direkter Erbe oder Nachfolger des ursprünglichen Herstellers gewesen war, musste irgendwo im Laufe des Prozesses eine gewaltige Summe Geldes den Besitzer gewechselt haben.
Das entsprach natürlich mehr oder weniger dem, was wir bereits wussten, und bot nur ein paar Einzelheiten mehr. Freilich folgten das Heimatschutzministerium und Dutzende Nachrichtendienste der USA und der NATO -Staaten dieser Spur. Dennoch hieß das noch lange nicht, dass es nicht sinnvoll gewesen wäre, daran zu arbeiten. Wir mussten nur besser sein.
Und das sind wir, dachte ich. Der Vorteil, den wir – außer dem Opferspiel – besaßen, bestand darin, dass wir tatsächlich versuchten, den wahren Übeltäter zu finden, denn das war den Geheimdienstorganisationen nicht so wichtig. Ihnen ging es nur die Aufstockung ihres Etats. Sie mussten möglichst viele neue Leute einstellen, so lange wie praktikabel brauchen und vor allem dabei so viel Geld ausgeben, wie es nur ging. Wir hingegen waren schlank und effizient. Vielleicht hat Dr. X ein bisschen Gold verschoben, überlegte ich. Vielleicht irgendwo in Afrika. Ich schloss den Laptop – er bestand darauf, dass ich noch einmal meine Iris scannen ließ, nur damit ich ihn ausschalten durfte – und schaltete CNN ein.
Die Nachrichten waren alles andere als gut. In den USA erreichte die Arbeitslosenquote die 25-Prozent-Marke. Die Regierung hatte offiziell verlautbart, dass Gott uns für unsere Unmoral und Weltlichkeit strafe. Einige Bundesstaaten wie Texas und Kentucky hatten ein Schweigegebot erlassen für die Zeiten, wenn morgens und mittags die vom Präsidenten geführten Gebete auf dem Südrasen des Weißen Hauses stattfanden, und heute hatten sich dreißig Millionen Menschen über Video angeschlossen. Letzte Woche waren Army, Navy und Marine Corps zu einer einzigen Teilstreitkraft umstrukturiert worden, die einem einzigen exekutiven Oberkommando unterstand, und Air Force und NASA sollten »zeitnah eingegliedert werden«. Über zweihunderttausend Angehörige der Streitkräfte waren entlassen worden; ihre Positionen wurden an private Dienstleister ausgelagert. Moody’s hatte US -Staatsanleihen auf ein einfaches A zurückgestuft. Der Goldpreis schwankte um die fünftausend Dollar pro Feinunze. Gestern hatten die Häftlinge das Menard Correctional Center in Chester, Illinois, in ihre Gewalt gebracht, doch statt zu verhandeln, hatte ein Sondereinsatzkommando Brandgranaten abgefeuert und den Knast mitsamt allen Insassen abgefackelt. Auf YouCount.gov hatte diese Polizeientscheidung bislang eine Zustimmungsquote von 90 Prozent. Dearborn in Michigan unterlag nun der Scharia. Mittlerweile hatten mehr als zwei Millionen Flüchtlinge die Grenze von Bangladesch nach Indien überquert. Unsere alten Freunde Guatemala und Belize lagen sich wieder in den Haaren, und fast jeden Tag hörte man, dass sie vermutete Truppenkonzentrationen an der Grenze unter Artilleriebeschuss genommen hatten. Biotechniker an der ZionTech in Haifa behaupteten, die Fleckenlose Rote Färse gezüchtet zu haben. Und – mir ist durchaus klar, dass das alles mittlerweile ziemlich komisch klingt, zumindest für jemanden mit einem Herz aus Stein wie mich – über Kuba braute sich der Hurrikan Twinkie zusammen.
Die gute Nachricht für uns lautete – etwas Gutes ist schließlich
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