2012 – Das Ende aller Zeiten
urteilen, schien er seine Furcht allmählich zu überwinden. Ich hatte so etwas schon erlebt: Kinder bekommen Angst, aber wenn die Erwachsenen ruhig bleiben, erholen sie sich binnen einer Sekunde. Sie wissen noch nicht, was normal ist.
»Max, du musst jetzt tapfer sein und dich um uns kümmern«, sagte Marena. »Weil du sehr viel über solche Dinge weißt.«
»Und wenn die Leitung doch explodiert?«, sagte er.
»Nein, nein, das dürfte nicht passieren«, widersprach ich. »In den Rohrleitungen gibt es Sperrventile. Aller Brennstoff fließt zu der Bruchstelle und verbrennt dort. Außerdem sind die Leitungen nicht in Straßennähe, sie liegen irgendwo anders auf dem Meeresboden.«
»Okay«, sagte er. Tatsächlich konnte es durchaus noch eine Pipelineexplosion geben. Oder brannte die gesamte Leitung aus, wenn in einem Abschnitt ein Feuer war? Das wusste ich nicht.
Ich sagte, ich müsse mich ein wenig umsehen, und stieg aus demWagen. Es war warm, aber es war auch ein warmer Tag gewesen, und in Richtung der Explosion kam mir die Luft nicht viel wärmer vor. Man konnte Sirenen hören, und aus größerer Entfernung übertönte ein Megafon das Jaulen der Flugzeuge. Ein paar von den Leuten ringsum begannen ebenfalls auszusteigen. Ich schloss die Wagentür und stieg aufs Wagendach. Ich sah keinerlei Feuer oder schwere Unfälle in der Nähe, aber vor uns hatten sich Dutzende von Autos in unterschiedlichen Winkeln ineinandergeschoben. In voraussagbarer Zukunft würde niemand weiterfahren. Wahrscheinlich ist es bis hinunter nach Key West sowieso voll, dachte ich. Bis in Hemingways Schlafzimmer. Sie verdrängen die Katzen mit den sechs Zehen … Allerdings, wo ich schon daran dachte: Das Wort »voraussagbar« büßte im Moment einiges an Glanz ein.
»Jed, kommen Sie wieder in den Wagen«, sagte Marena über Außenlautsprecher.
Ich gehorchte. Mein ehemals modisches Hemd unter der Jacke triefte, als wollte ich an einem Nasser-Trottel-Wettbewerb teilnehmen. Marena stellte den Motor ab, ließ die Klimaanlage aber auf Batterie weiterlaufen. Sie schien sich erholt zu haben. Alles in allem hatte sie sich wirklich schnell gefangen.
Wir saßen im Auto und lauschten. Sonnenlicht fiel in den Wagen. Marena berührte etwas am Armaturenbrett, und rechts schoben sich getönte Membranen über die Fenster. Draußen hörte es sich düster an, aber alles war weit entfernt. Schließlich kletterte Max wieder auf den Rücksitz, und Marena begann auf ihrem Netphone herumzuklappern. Ich tat das Gleiche auf meinem. Auf CNN hieß es nun, ein paar Techniker von irgendwo, die in den Universal Studios gewesen waren und zufällig Dosimeter getragen hatten, hätten gestern Nachmittag der Polizei tödliche Strahlenwerte gemeldet, was aber offenbar zu nichts geführt hatte. Dabei sollte man doch meinen, dass es noch jemand anders gemerkt hätte, dachte ich. Sahen die Leute vom HSM nicht regelmäßig auf ihre Geigerzähler? Außerdem, wie viel Rad brauchte es, damit elektrische Messgeräte beeinträchtigt wurden, Rauchmelder Alarm gaben und sämtliche Röntgenfilme in den Zahnarztpraxen und sonst wo belichtet wurden? Und niemandsollte etwas bemerkt haben? Doch wenn ich es recht bedachte, hatte ich gestern etwas über Rauchalarme gehört. Oder? Verdammt noch mal, das Internet hat zehn Billionen Seiten, und keine einzige von ihnen ist … Egal. Ich ging wieder auf YouTube. Das Top-Video war eine lange bewegungslose Aufnahme der Interstate 75 irgendwo nördlich von Ocala. Nach Norden fahrende Wagen füllten alle sechs Spuren der Autobahn und waren steckengeblieben wie Cholesterin in einer dem Untergang geweihten Arterie. Vier anscheinend endlose Reihen von Fußgängern, eine auf jedem Grünstreifen, stapften an den Wagen vorbei. Die Leute trugen dicke Müllbeutel und Gallonenflaschen mit Trinkwasser an Stecken gebunden über der Schulter. Zwei tote oder auch nur vollkommen erschöpfte Menschen lagen säuberlich auf dem Mittelstreifen. Derartiges hatte ich oft gesehen, als ich noch klein war, doch in letzter Zeit kannte ich wie alle um mich herum so etwas nur noch aus dem Fernsehen, vom neusten alltäglichen Holocaust in Afrika oder Asien zum Beispiel, und es kam mir beinahe genauso merkwürdig vor wie den meisten geborenen US -Bürgern, dass es nun hier mitten unter uns passieren sollte. Nur dass die Kolonne nicht ganz so aussah wie andere Flüchtlingszüge, denn die Menschen gingen auf jene eigentümliche Art, die an Brown’sche Molekularbewegung denken
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