2012- Die Rückkehr
Er ist so alt wie die Zeit und so groß wie ein afrikanischer Affenbrotbaum. Sein knotiger, verzerrter Stamm und seine kahlen Zweige sind alabasterweiß, und aus seiner porösen Rinde tritt eine harzähnliche, elfenbeinfarbene Flüssigkeit.
Am Fuß des Stammes, der die Ausmaße eines Mammutbaums besitzt, steht eine Gestalt.
Lilith.
Die Hunahpu-Königin trägt eine zinnoberrote Mönchskutte, und ihr haarloser, verlängerter Schädel mit seiner bizarren Jaguar-Tätowierung ist unter der schweren Kapuze verborgen.
Als sie spricht, wird ihre Stimme durch die natürliche Akustik des Sees verstärkt.
»Und es geschah, dass unser tyrannischer Gott Jahwe von so großer Furcht und Eifersucht gegenüber Seiner eigenen Schöpfung erfüllt wurde, dass er Seinen schönsten Sohn, den Erzengel Luzifer, in die Tiefen der Hölle schleuderte. So selbstsüchtig war unser Schöpfer, dass Er Seine größte Schöpfung, den Menschen, aus dem Garten Eden verbannte. So egoistisch war dieser von Rache getriebene
Gott, dass Er blutige Opfer unter seinen treuesten Anhängern guthieß. So gnadenlos war Er, dass Er eine gewaltige Flut losbrechen ließ und Sein Volk ertränkte. So verschreckt angesichts der Intelligenz des Menschen war unsere paranoide Gottheit, dass Er den Turm zu Babel zerstörte und die Überlebenden in alle vier Winde zerstreute und sie zwang, verschiedene Sprachen zu sprechen, um so unseren Aufstieg als Spezies zu verhindern und unsere Vernichtung vorzubereiten.
›Du sollst nicht töten‹, befahl der Große Heuchler, während Er uns gleichzeitig wie Fische in einem Fass zerschmetterte und uns lehrte zu hassen.
Doch selbst dem Großen Heuchler gelang es nicht, die Liebe zu unserem wahren Vater zu ersticken, zu unserem schönen Morgenstern, der noch aus der Hölle heraus mit uns in Verbindung trat, um uns zu unterrichten. Es ist Luzifer, der uns lehrte, die Frucht am Zweig zu genießen. Er ist es, der Abstinenz durch Hingabe und Ignoranz durch Neugierde ersetzt hat. Es war Luzifer, der unseren Geist befreite und der unseren biologischen, spirituellen und intellektuellen Aufstieg ermutigte und uns zu den verborgenen Kräften der Natur hinleitete. Er ist unsere Erlösung, und wir sind die seine, denn die Zeit ist gekommen, das Unrecht der Vergangenheit wiedergutzumachen und unseren Vater von seinen unheiligen Fesseln zu befreien.«
Die Menge stampft und grunzt. Ihr Toben treibt das Wasser durch die poröse Erde nach oben. Auch die Eulen auf der anderen Seite der Straße scheinen hinzustarren, und sie atmen laut pfeifend ein und aus.
Dominique greift nach dem Schwert. Ihre Arme zittern.
Lilith wartet, bis ihre Legionen sich beruhigt haben. »Und jetzt hat uns Jahwe einen weiteren Boten des Schmerzes
geschickt. Doch habt keine Angst. Die Ankunft dieses Hunahpu soll euch nicht in tiefere Verzweiflung stürzen. Devlin, euer wahrer Erlöser, wird die Kräfte des Hunahpu dazu benutzen, um die Tore der Hölle zu öffnen und euren Vater, den Erzengel Luzifer zu befreien!«
Wildes Stampfen und Grunzen. Die Wesen trampeln sich in der Menge fast gegenseitig nieder, während sie versuchen, noch näher heranzurücken.
Lilith bringt sie mit einer Geste zum Schweigen. »Geduld. Die gesegnete Wiederauferstehung wird sich schon bald in eurer Mitte ereignen. Bis dahin dürft ihr Luzifers Licht einmal umkreisen, bevor ihr wieder zu euren Unterkünften gehen werdet.«
Atemlos sieht Dominique zu, wie die Prozession der gequälten Gestalten langsam den schimmernden, alabasterfarbenen Baum umrundet, wobei ihre bunten Kugeln seine Energie in sich aufnehmen; es ist, als saugten sie seine Wärme in sich ein und ernährten sich von dem Licht des Baums, denn jetzt leuchten sie heller auf.
Und dann beginnt die Rückkehr mit ihrem Gegrunze und Geschiebe, wobei die Zweibeiner die langsameren Amputierten auf dem Weg ins Dorf beiseitedrängen.
Dominique bleibt in ihrem Versteck und zoomt sich mithilfe des Smart-Fernglases an ein weiteres Objekt heran, das sich unmittelbar unter einem der herabhängenden Äste des Baumes befindet.
Es ist ein Holzkreuz, an dem eine gekreuzigte Gestalt hängt.
Eine Dornenkrone, unter der blaues Blut hervorrinnt, beschattet das Gesicht.
Jacob …
42
D ominique wartet, bis die Straßen verlassen sind, und dann wartet sie noch einmal zehn Minuten.
Schließlich verlässt sie ihr Versteck und eilt, durch den grauen Sumpf schlitternd, die Straße zum See hinunter.
Rasch wirft sie einen Blick nach links. Die
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