2012 - Folge 9 - Die Weltuntergangsmaschine
Tasche.
Wohl war ihm nicht dabei. Es war ja schon ein bisschen wie Stehlen, und das war schlimm. Allerdings brachte er den Stein ja nicht weg von hier; er verließ nicht einmal das Zimmer damit. Und Tom konnte ihn natürlich jederzeit zurückbekommen. Auch wenn er ihn in der endlosen Kammer nur loswerden wollte und offenbar gar nichts damit anzufangen gewusst hatte.
Immerhin hatte Jandro jetzt herausgefunden, wo der Himmelsstein hingehörte, und darüber würde Tom doch sicher froh sein.
Das gab Alejandro Auftrieb. Er griff in den Lederbeutel. Seine Finger schlossen sich um den Stein. Dass er ihn in der Hand hatte, merkte er nur an der kristallartig geschliffenen Form, nicht am Gewicht, denn das Artefakt wog so gut wie nichts. Und zu sehen war es auch nicht.
Als Jandro die Hand mit dem Himmelsstein aus dem Beutel zog, steckte diese wie einer dunklen Wolke. Tom hatte ihm erklärt, dass der Stein das Licht in seinem unmittelbaren Umkreis schluckte und so Dunkelheit erzeugte.
Dunkelfeld nannte er das.
Es bereitete Jandro etwas Unbehagen, obgleich er es nicht zum ersten Mal sah. Tom hatte ihn den Stein sogar schon in die Hand nehmen lassen, als Maria Luisa nicht dabei gewesen war. Sie hätte es sicher verboten. Tom war da lockerer.
Jandro wünschte, sein Papa wäre so wie Tom gewesen …
Die unsichtbare Hand mit dem unsichtbaren Objekt darin ehrfurchtsvoll nach vorne gestreckt, kehrte Jandro zum Tisch zurück und legte den Stein an dessen anderem Ende ab, sodass das Dunkelfeld die Einzelteile nicht erreichte.
Dann machte er sich ein weiteres Mal an den Zusammenbau der fußballgroßen Kugel, und als er an dem Punkt anlangte, an dem die Konstruktion auseinanderzufallen drohte, griff er zu dem dreizehnflächigen Kristall und setzte ihn in die Mulde, die sich zwischen den anderen Teilen ergab – und in die der Himmelsstein wie erwartet genau hineinpasste. Damit verschwanden zwar auch die Bauteile um den Kristall herum im Dunkelfeld, doch Jandro hatte sie inzwischen so eingehend studiert und so oft in der Hand gehabt, dass er sie nicht mehr sehen musste, um das Rätsel zu lösen.
Er setzte die erst halb fertige Kugel auf dem Tisch ab, hielt sie noch eine Sekunde lang mit beiden Händen zusammen, dann ließ er los.
»Ha!«, machte er freudig.
Die Teile fielen nicht mehr auseinander, sondern hafteten aneinander, als seien sie plötzlich magnetisch.
Jandro baute eifrig weiter.
Das Eingangsgebäude zur Nekropole wurde von zwei Schweizergardisten bewacht. Sophie fand, dass sie sehr stattlich aussahen in ihren rot-gelb-blauen Uniformen, die einer Medici-Tracht aus dem 15. Jahrhundert nachempfunden waren und die keineswegs, wie es oft hieß, Michelangelo entworfen hatte.
Wie schon am Nachmittag ließen auch diese Wachen Bruno Dallocchio anstandslos passieren. Obwohl sie sich, wie Sophie den beiden Männern ansah, durchaus wunderten, dass der Chef-Archäologe gerade am Weihnachtsabend und um diese Zeit noch in die Nekropole wollte. Dass sich eine junge Studentin in seiner Begleitung befand, mochte sie darüber hinaus verblüffen. Vielleicht zogen sie aber auch völlig falsche Schlüsse und dachten, der Dottore und das Mädchen wollten sich an einem morbiden Ort vergnügen.
Sophie grinste in sich hinein. Das hätte sie sich bei Dallocchio nicht vorstellen können. Dazu war er nicht der Typ. Er war noch nicht einmal der Typ, überhaupt etwas mit einer Studentin anzufangen. Und er war auch nicht Sophies Typ. Trotzdem mochte sie ihn. Er war einer der größten Experten seines Fachs, es war eine Ehre, mit ihm arbeiten zu dürfen, und er teilte sein Wissen bereitwillig, wusste gut zu erklären, und es gab keine Frage, die er nicht geduldig beantwortete.
Er hätte einen guten Vater abgegeben, dachte Sophie, während sie ihm zum eigentlichen Zugang in die Nekropole folgte. Mehr noch, sie hätte sich einen solchen Vater gewünscht. Aber ihr Vater … nun, er war nicht weit entfernt, aber es wusste niemand – oder kaum jemand –, dass er ihr Vater war. Ihre Mutter wusste nicht einmal, dass Sophie selbst es wusste. Aber sie war nicht dumm und hatte nicht viel mehr tun müssen, als eins und eins zusammenzuzählen, um darauf zu kommen, worin die »Beziehung« ihrer Mutter in den Vatikan bestand.
Aber Sophie respektierte, dass ihre Mutter dieses Geheimnis wahren wollte. Sie fand nicht, dass sie ein Recht darauf hatte zu erfahren, wer ihr Vater war. Weil dies das Recht eines anderen Menschen auf Privatsphäre verletzt
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