2012 - Schatten der Verdammnis
kleine Mann dreht sich um und geht davon.
»So warten Sie doch...« Dominique eilt hinter ihm her. »Sie wissen, wer das ist, nicht wahr? Wenn Sie mich zu ihm bringen, springt allerhand für Sie heraus.« Sie drückt ihm ein Bündel Geldscheine in die Hand.
»Tut mir Leid, Señorita, den Mann, den Sie da suchen, kenne ich nicht.« Er drückt ihr das Geld wieder in die Hand.
Sie zählt ein paar Scheine ab. »Da, nehmen Sie das...«
»Nein, Señorita.«
»Bitte. Wenn Sie ihm zufällig begegnen oder wenn Sie jemand kennen, der ihm eine Nachricht überbringen kann, lassen Sie ihn wissen, dass Dominique ihn treffen will. Sagen Sie ihm, es geht um Leben und Tod.«
Der Führer sieht die Verzweiflung in ihrem Blick. »Der Mann, den sie suchen - ist er Ihr Partner?«
»Er ist ein guter Freund.«
Nachdenklich blickt der Führer eine Weile in die
Ferne. »Lassen Sie sich Zeit und schauen Sie sich hier ein wenig um. Essen Sie dann was Warmes und warten Sie, bis es dunkel wird. Der Park schließt um zehn. Verstecken Sie sich vorher im Dschungel, kurz bevor die Wächter ihre letzte Runde machen. Wenn alle weg sind und man die Tore verschlossen hat, steigen Sie auf den Kukulkan-Tempel und warten.«
»Auf Mick?«
»Schon möglich. Am Haupteingang sind ein paar Andenkenläden. Kaufen Sie sich einen Wollponcho, den werden Sie nachts brauchen.«
»Wollen Sie das Geld wirklich nicht nehmen?«
»Nein. Die Gabriels sind schon sehr lange mit meiner Familie befreundet.« Der Führer lächelt. »Wenn Mick Sie findet, sagen Sie ihm, Elias Forma meint, Sie seien viel zu schön, um allein im Land der grünen Blitze herumzuspazieren.«
Das unablässige Summen unzähliger Moskitos dringt Dominique in die Ohren. Sie zieht sich die Haube des Ponchos über den Kopf und kauert sich in die Dunkelheit, während um sie herum der Dschungel erwacht.
Was mache ich hier nur? Sie schlägt nach imaginären Insekten, die an ihrem Arm entlangkriechen. Eigentlich sollte ich jetzt in den letzten Tagen meines Praktikums sein und dann mein Studium beenden.
Der Wald fängt an zu rauschen. Ein Flügelflattern bricht durch das Blätterdach über ihrem Kopf. Irgendwo in der Ferne durchstößt der Schrei eines Brüllaffen die Nacht. Sie blickt auf ihre Armbanduhr - 10.23 Uhr - zieht sich den Poncho wieder über den Kopf und rutscht auf dem Felsen, auf dem sie sitzt, unbeha g lich hin und her.
Noch zehn Minuten.
Die Augen schließend lässt sie sich vom Dschungel umhüllen, genau wie damals in ihrer Kindheit. Sie riecht den betäubenden Duft des Mooses, hört das Rascheln
der im sanften Wind tanzenden Palmwedel und ist wieder in Guatemala. Vier Jahre alt, steht sie an der weiß gekalkten Mauer vor dem Fenster zum Schlafzimmer ihrer Mutter und hört ihre Großmutter weinen. Sie wartet, bis ihre Tante die alte Frau hinausgeführt hat, dann klettert sie durchs Fenster.
Dominique starrt auf die leblose Gestalt, die ausgestreckt auf dem Bett liegt. Die Finger, die ihr noch vor wenigen Stunden übers Haar gestrichen haben, sind jetzt blau an den Spitzen. Der Mund steht offen, die braunen Augen sind halb geschlossen und blicken reglos an die Decke. Dominique berührt die hohen Wangenknochen und spürt kalte, klamme Haut.
Das ist nicht ihre Mutter. Das ist etwas anderes, eine Hülle aus unbeseeltem Fleisch, die ihre Mutter getragen hat, als sie ein Teil dieser Welt war.
Ihre Großmutter kommt ins Zimmer. Nun ist sie bei den Engeln, Dominique...
Der Nachthimmel über Dominiques Kopf füllt sich jäh mit dem chaotischen Geräusch unzähliger Fledermäuse, die hochgeflogen sind. Sie springt auf und versucht mit wild klopfendem Herzen, die Erinnerungen ebenso von sich fern zu halten wie die Moskitos.
»Nein! Ich gehöre nicht hierher. Mein Leben ist woanders!«
Sie drängt ihre Kindheit in den Hintergrund ihres Bewusstseins und verschließt die Tür, dann klettert sie von ihrem Felsen und bahnt sich einen Weg durchs Dickicht, bis sie am Rand des Heiligen Cenote ins Freie tritt.
Dominique blickt auf die nackten Wände des Beckens, die senkrecht zur Oberfläche des tief schwarzen, mit Algen durchsetzten Wassers abfallen. Das Licht des zu drei Vierteln vollen Mondes spiegelt sich in den Furchen, die die Erosion im weißen Kalkstein der Umrandung hinterlassen hat. Sie hebt den Kopf und betrachtet den von einer Mauer umschlossenen Bau, der sich über
den Südrand des Beckens erhebt. Sie weiß: Vor tausend Jahren haben die Maya, verzweifelt über das
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