2012 - Schatten der Verdammnis
Fußwege führen die Besucher zu den Felstürmen; Holzbrücken überqueren Bäche und bohren sich durch die natürlichen Felsbögen, die typisch für die zerklüftete Landschaft sind.
Die Geschichte des Steinwalds hat vor etwa zweihundertachtzig
Millionen Jahren begonnen, als sich der Himalaya auffaltete. Durch die Erdbewegung entstanden spiralförmige Formationen im Kalksteinplateau von Yunnan. Weitere Bewegungen schufen im Lauf der Jahrmillionen tiefe Risse im Karst, die durchs Regenwasser vergrößert wurden. Das Endresultat waren die hoch aufragenden, dolchförmigen Felsen aus grauweißem Stein, die heute zu sehen sind.
Die Morgendämmerung bricht an, als Janet Parker, eine zweiundfünfzig Jahre alte amerikanische Touristin, mit ihrem Führer Qik-Sing am Eingang des Parks ankommt. Obwohl das amerikanische Außenministerium vor Reisen nach China gewarnt hat, will die resolute Geschäftsfrau aus Florida unbedingt noch den Kalksteinwald besuchen, bevor sie gegen Mittag in Kunming ihr Flugzeug besteigt.
Sie folgt ihrem Führer an einer Pagode vorbei auf einen mit Holzbohlen belegten Fußweg, der sich durch die dramatischen Kalksteinformationen windet. »Moment mal, Qik-Sing. Ist das schon alles? Sind wir deshalb eine ganze Stunde hierher gefahren?«
»Wo ting budong...« «
»Englisch, Qik-Sing, Englisch.«
»Ich nicht verstehen, Miss Janet. Das ist der Steinwald. Was Sie haben erwartet?«
»Offenbar was Spektakuläreres, Hier gibt’s ja meilenweit bloß Felsen.« Ein heller bernsteinfarbener Lichtschimmer fällt ihr ins Auge. »He, was ist das?« Sie deutet auf einen goldenen Scheinwerfer, der zwischen den Kalksteinsäulen aufblitzt.
Erschrocken hält Qik-Sing die Hand vor die Augen. »Ich... ich weiß nicht. Miss Janet, bitte, was Sie haben vor?«
Parker klettert übers Geländer. »Ich will mal schauen, was das ist.«
»Miss Janet - Miss Janet!«
»Nur mit der Ruhe, bin gleich wieder da.« Die Kamera in der Hand, lässt sie sich zum Boden hinab und quetscht sich zwischen zwei Säulen durch. Den Kratzer, den ein scharfer Stein an ihrem Knöchel hinterlässt, quittiert sie mit einem lauten Fluch. An der anderen Seite angelangt, muss sie nur den Kopf heben, um die Quelle des hellen Lichtstrahls zu sehen.
»Du lieber Himmel, was ist denn das?«
Das schwarze, an ein Insekt erinnernde Objekt ist mehr als zwölf Meter lang und steckt mit den gewaltigen Flügeln zwischen zwei der hoch aufragenden Kalksteinsäulen fest. Die rot glühenden Klauen bohren sich in den zischenden Karst.
»Qik-Sing, hierher!« Parker macht ein Foto, während die ersten Sonnenstrahlen auf die Flügel des leblosen Wesens fallen. Die bernsteinfarbene Scheibe, aus der das Licht dringt, wird dunkler, während sie immer schneller blinkt. »He, Qik-Sing, wofür bezahle ich dich eigentlich?«
Eine lautlose Explosion strahlend weißen Lichts blendet die Touristin. Die Zündung der Fusionsbombe hat einen Kessel aus tobender Energie geschaffen, der heißer ist als die Oberfläche der Sonne. Ganz kurz spürt Janet Parker ein seltsames Brennen, als Haut, Fett und Fleisch sich brodelnd von den Knochen lösen. Eine Nanosekunde später verdampft auch ihr Skelett, während der glutheiße Feuerball sich mit Lichtgeschwindigkeit in alle Richtungen ausbreitet.
Rasch hat die Flammenwand den gesamten Kalksteinwald erfasst. Die Hitze lässt den Karst verdampfen und eine dichte, giftige Wolke aus Kohlendioxid entstehen. Von der in den oberen Luftschichten vorherrschenden arktischen Strömung nach unten gedrückt, bleiben die toxischen Dämpfe am Boden, wo sie sich wie eine Flutwelle ausdehnen.
Die meisten Einwohner von Kunming schlafen noch, als sich die unsichtbare Gaswolke durch die Stadt wälzt wie ein heißer Windstoß an einem Sommertag. Wer schon aufgestanden ist, fällt auf die Knie und greift sich an den Hals, von Schwindel gepackt. Wer im Bett liegt, spürt kaum ein Zucken, während er im Schlaf erstickt.
Innerhalb weniger Minuten sind alle Männer, Frauen und Kinder und alle anderen Luft atmenden Wesen in der Gegend tot.
Lensk Republik Sacha, Russland
5.47 Uhr Pavel Przenitschny, siebzehn Jahre alt, nimmt die Axt, die ihm sein jüngerer Bruder Nikolai reicht, und tritt aus dem geräumigen Blockhaus in den frisch gefallenen Schnee, der ihm bis zum Knöchel reicht. Der eisige Morgenwind heult ihm in die Ohren und lässt sein Gesicht prickeln. Pavel zieht seinen Schal enger und trottet über den vereisten Hof zum Holzstoß.
Die Sonne
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