2012 - Schatten der Verdammnis
verbracht hatte. Meine Mutter war es an diesem Tag gar nicht gut gegangen. Sie hatte hohes Fieber und starke Schmerzen und ich war völlig erledigt, weil ich sie zweiundsiebzig Stunden lang gepflegt hatte. Mein Vater hat sich auf die Bettkante gesetzt und sie einfach angeschaut. Da hab ich schließlich gute Nacht gesagt,
bin ins Nebenzimmer gegangen und hab die Tür hinter mir zugemacht, um ein wenig zu schlafen.
Als ich im Bett lag, muss ich sofort weggewesen sein. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hab; jedenfalls bin ich mitten in der Nacht aufgewacht, weil ich erstickte Schreie hörte. Da bin ich auf g estanden und hab die Tür auf g emacht.«
Mick schließt die Augen. Seine Tränen fließen jetzt hemmungslos.
»Was war es?«, flüstert Dominique. »Was hast du gesehen?«
»Die Schreie kamen von meiner Mutter. Mein Vater stand über ihr und hat sie mit seinem Kissen erstickt.«
»Mein Gott...«
»Ich hab im Halbschlaf einfach dagestanden, ohne dass mir klar wurde, was da vor sich ging. Nach etwa einer Minute hat meine Mutter sich nicht mehr bewegt, und im selben Augenblick hat mein Vater gemerkt, dass sich die Tür geöffnet hatte. Er hat sich umgedreht und mich mit einem furchtbaren Ausdruck auf dem Gesicht angeschaut. Dann hat er mich ins Zimmer gezogen, hat geschluchzt und immer wieder gestammelt, dass meine Mutter doch so sehr gelitten hätte. Da wäre er einfach nicht mehr in der Lage gewesen, sie noch mehr leiden zu sehen.«
Mick wiegt sich vor und zurück, ohne den Blick von der Windschutzscheibe zu wenden.
»Deine Alpträume?«
Er nickt, dann ballt er die Fäuste und schlägt mit ganzer Kraft auf das altersschwache Armaturenbrett. »Wer war er denn, dass er diese Entscheidung getroffen hat? Ich hab sie doch gepflegt, ich hab mich um sie gekümmert, nicht er!«
Dominique zuckt zusammen, als er wieder und wieder aufs Armaturenbrett einschlägt, um seine aufgestaute Wut loszuwerden.
Seelisch erschöpft legt er den Kopf aufs Lenkrad. »Er hat mich noch nicht einmal gefragt, Dominique. Er hat mir nicht einmal die Chance gegeben, mich von ihr zu verabschieden.«
Dominique zieht ihn an sich, legt seinen Kopf an ihre Brust und streicht ihm übers Haar, während er seinen Tränen freien Lauf lässt. Auch sie muss weinen, als sie daran denkt, wie er gelitten hat. Seit der Geburt war ihm keine normale Kindheit vergönnt, denkt sie, und kaum war er erwachsen, hat man ihn in die Einzelzelle gesteckt.
Wie kann ich nur daran denken, ihn wieder in eine Anstalt zu schaffen?
Nach mehreren Minuten hat er sich beruhigt. Er schiebt sie weg und wischt sich die Augen. »Da hab ich wohl noch ein paar familiäre Probleme zu klären, was?«
»Du hast ein hartes Leben gehabt, aber von nun an wird alles besser.«
Mick zieht die Nase hoch und unterdrückt ein Lächeln. »Meinst du?«
Sie beugt sich zu ihm und küsst ihn. Zuerst ist es eine sanfte Berührung, dann zieht sie ihn an sich. Die Lippen pressen sich aufeinander, die Zungen umspielen sich, bis beide immer leidenschaftlicher werden. Erregt zerren sie an der Kleidung des anderen und liebkosen sich in der Dunkelheit, ständig im Konflikt mit dem engen Führerhaus. Vor allem Lenkrad und Schaltknüppel schränken die Möglichkeiten deutlich ein.
»Mick... wart mal. Das geht hier nicht; es ist einfach kein Platz.« Keuchend legt sie den Kopf an seine Schulter. Schweißperlen rollen ihr über die Wangen. »Wenn du das nächste Mal einen Wagen ausleihst, solltest du einen mit Rücksitz besorgen.«
»Versprochen.« Er küsst ihre Stirn.
Sie spielt mit den Locken, die ihm in den Nacken fallen. »Jetzt sollten wir aber gehen, sonst müssen deine Freunde auf uns warten.«
Sie steigen aus. Mick klettert auf die Ladefläche, löst zwei Luftflaschen aus ihrer Halterung und reicht Dominique eine Tauchweste, an der bereits eine Luftflasche samt Lungenautomat befestigt ist. »Hast du nachts überhaupt schon mal getaucht?«
»Ja, vor zwei Jahren. Wie weit ist es denn zum Cenote?«
»Knapp zwei Kilometer. Wahrscheinlich schaffst du’s besser, wenn du die Flasche auf den Rücken nimmst.«
Sie schlüpft in die Weste und nimmt ihm die Neoprenanzüge ab. Mick schnallt ebenfalls seine Weste fest, wirft sich die Tasche mit den Instrumenten über die Schulter und nimmt die zwei Ersatzflaschen. »Mir nach.«
Er trampelt ins Dickicht hinein. Dominique stapft mühsam hinter ihm her. Es dauert nicht lange, bis ihnen ganze Moskitoschwärme um die Ohren schwirren und sich
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