2012 - Schatten der Verdammnis
Tagebuch meines Vaters gelesen?«
»Tut mir Leid, ich hab nur die ersten zehn Seiten geschafft. Die Studie von Rosenhan hab ich aber ganz gelesen.«
»Über das Thema, an einem Ort für Wahnsinnige gesund zu sein. Ihr Kommentar, bitte?«
»Ich fand es interessant, vielleicht sogar ein wenig überraschend. Das Personal hatte es nicht gerade einfach, die Maulwürfe von den Patienten zu unterscheiden. Warum sollte ich den Aufsatz lesen?«
»Was meinen Sie?« Die schwarzen Augen funkeln sie an, strahlend vor tierhafter Intelligenz.
»Offensichtlich sollte ich über die Möglichkeit nachdenken, dass Sie nicht geisteskrank sind.«
»Offensichtlich.« Er setzt sich auf und zieht die Füße in den Lotussitz. »Machen wir mal ein kleines Spiel, ja? Stellen wir uns vor, es ist heute vor elf Jahren und Sie befinden sich an meiner Stelle. Sie sind Michael Gabriel, Sohn des in Bälde berüchtigten und ziemlich toten Archäologen Julius Gabriel. Sie stehen hinter dem Podium eines bis auf den letzten Platz gefüllten Hörsaals der Harvard University und hören zu, wie Ihr Vater den hellsten Köpfen seiner Disziplin die Ergebnisse einer lebenslangen Forschung anvertraut. Das Herz schlägt ihnen bis zum Hals, denn seit Sie laufen können haben Sie Seite an Seite mit ihrem Vater gearbeitet und wissen, wie wichtig dieser Vortrag nicht nur für ihn, sondern für die Zukunft der Menschheit ist. Kaum sind zehn Minuten
verstrichen, als Sie sehen, wie ein Mensch, der seit vielen Jahren der Todfeind Ihres Vaters ist, übers Podium zu einem zweiten Pult schreitet. Pierre Borgia, das einstmals schwarze Schaf einer Politikerdynastie, hat beschlossen, die Schlussfolgerungen meines Vaters gleich an Ort und Stelle in Frage zu stellen. Damit ist klar, dass der ganze Vortrag eine abgekartete Sache ist, von Borgia persönlich arrangiert, um meinen Vater zu attackieren und seine Glaubwürdigkeit zu zerstören. Mindestens ein Dutzend Zuhörer sind in den Spaß eingeweiht. Nach weiteren zehn Minuten kann man nicht einmal mehr die Stimme von Julius Gabriel hören, so brüllend lachen seine Kollegen.«
Mick schweigt einen Moment, in Erinnerung versunken. »Mein Vater war ein selbstloser, hochintelligenter Mensch, der sein Leben der Suche nach der Wahrheit gewidmet hatte. Inmitten des wichtigsten Vortrags seines Lebens hat man ihm seine ganze Existenz unter den Fü-βen weggerissen, hat seinen Stolz zerstört, hat sein ganzes Werk, die Frucht von zweiunddreißig entbehrungsreichen Jahren, innerhalb weniger Minuten völlig in den Dreck gezogen. Können sie sich vorstellen, wie erniedrigt er sich gefühlt haben muss?«
»Was ist dann passiert?«
»Er ist nach hinten getaumelt und mir in die Arme gesunken, die Hände an die Brust gepresst. Mein Vater hatte ein schwaches Herz. Mit dem letzten Rest an Kraft, der ihm verblieben war, hat er mir eine Botschaft zugeflüstert, dann ist er in meinen Armen gestorben.«
»Und da haben Sie sich auf Borgia gestürzt?«
»Der Scheißkerl stand noch immer auf dem Podium und gab hasserfüllte Kommentare von sich. Trotz allem, was man Ihnen bestimmt erzählt hat, bin ich kein gewalttätiger Mensch« - die dunklen Augen weiten sich -, »aber in diesem Augenblick wollte ich ihm das Mikrofon
in den Schlund stopfen. Ich weiß noch, wie ich über das Podium geschlichen bin, während alles um mich herum sich wie in Zeitlupe bewegt hat. Ich hab nur noch meinen eigenen Atem gehört, hab nur noch Borgia gesehen, wie durch einen Tunnel hindurch. Dann lag er auf dem Boden, und ich hab ihm mit dem Mikrofon den Schädel eingeschlagen.«
Dominique schlägt die Beine übereinander, um ihr Erschaudern zu verbergen.
»Der Körper meines Vaters ist im öffentlichen Leichenschauhaus gelandet und wurde ohne jede Zeremonie eingeäschert. Borgia hat die folgenden drei Wochen in einem teuren Krankenhauszimmer verbracht, während seine Familie sich um seinen Wahlkampf gekümmert hat. Das Resultat war etwas, was die Presse als >beispiellose Aufholjagd< bezeichnete. Weil ich keine Freunde oder Verwandte hatte, die eine Kaution für mich hinterlegen konnten, bin ich derweil in einer Gefängniszelle vergammelt und hab darauf gewartet, wegen Körperverletzung vor Gericht gestellt zu werden. Aber Borgia hatte etwas anderes mit mir im Sinn. Mithilfe des politischen Einflusses seiner Familie hat er das Gerichtsverfahren manipuliert, das heißt einen Kuhhandel mit dem Staatsanwalt und meinem Pflichtverteidiger abgeschlossen. Bevor ich wusste,
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