2012 - Schatten der Verdammnis
seinen Tränen hin, ohne auch nur im Geringsten darauf zu achten, ob sein Fahrer ihn beobachtet oder nicht.
Ennis Chaney trägt seine Gefühle offen zur Schau. Das hat er vor langer Zeit von seiner Mutter gelernt. Innere Stärke und Führungskraft nützen nichts, wenn man sich keine Gefühle erlaubt, und Chaney fühlt alles. Pierre Borgia hingegen fühlt nichts. In einer reichen Familie aufgewachsen, betrachtet der Außenminister das Leben mit Scheuklappen und denkt nie darüber nach, welche Gefühle die anderen haben könnten. Diese Tatsache macht dem Senator große Sorgen. Mit jedem neuen Tag wird die Welt zu einem komplexeren und gefährlicheren Ort. In Asien wächst der nukleare Wahnsinn weiter, und Borgia ist der Letzte, den Chaney in einer Krisensituation an den Schalthebeln der Macht sehen möchte.
»Alles in Ordnung da hinten, Senator?«
»Teufel, nein. Was für ’ne saublöde Frage ist denn das?« Chaneys Stimme klingt rau und tief, wenn er nicht gerade brüllt, was er ziemlich oft tut.
»Tut mir Leid, Sir.«
»Halten Sie den Mund und konzentrieren Sie sich auf die Straße.«
Der Fahrer lächelt. Seit sechzehn Jahren arbeitet Dean Disangro nun schon für Senator Chaney und schätzt ihn wie einen Vater.
»Deano, was zum Teufel kann so wichtig sein, dass die NASA mich am Sonntag nach Goddard ruft?«
»Keine Ahnung. Sie sind Senator, ich bin bloß ein schlecht bezahlter Angestellter...«
»Ach, halten Sie die Klappe. Sie wissen besser als die meisten Trottel im Kongress Bescheid, was gerade läuft.«
»Schließlich sind Sie für die NASA zuständig, Senator. Offenbar ist was Wichtiges passiert, wenn die den Mumm haben, Sie am Wochenende hinzubestellen.«
»Danke, Sherlock. Haben Sie eigentlich ’nen Nachrichtenmonitor da vorne?«
Der Fahrer gibt ihm das etwa zwanzig mal dreißig Zentimeter große Gerät, das bereits auf die Washington Post eingestellt ist. Chaney wirft einen Blick auf die Schlagzeilen, die sich mit den Vorbereitungen für das große nukleare Abwehrmanöver in Asien beschäftigen. Grosny hat die Sache auf die Woche vor Weihnachten gelegt. Das war clever. Zweifellos hofft er, die Festtagsstimmung zu torpedieren.
Chaney wirft den Monitor neben sich. »Wie geht’s Ihrer Frau? Bald kommt das Baby, stimmt’s?«
»In zwei Wochen.«
»Wie schön.« Chaney lächelt. In seinen blutunterlaufenen Augen schimmert es wieder feucht.
Raumflugzentrum Goddard der NASA Greenbeit, Maryland
Senator Chaney spürt die nervösen Blicke der kleinen Versammlung im Konferenzraum auf sich. Die Leute, die ihn umgeben, sind von der NASA, von SETI, aus Arecibo und weiß Gott woher. Er überfliegt den zwanzigseitigen Bericht, dann räuspert er sich und bringt die Anwesenden zum Schweigen. »Sind Sie vollkommen sicher, dass das Radiosi g nal aus dem Weltraum stammt?«
»Ja, Senator.« Brian Dodds, der geschäftsführende Direktor der NASA, sieht fast so aus, als wolle er sich entschuldigen.
»Aber Sie waren nicht in der Lage, den genauen Ursprung des Signals festzustellen?«
»Nein, Sir, noch nicht. Wir sind ziemlich sicher, dass sich die Quelle im Orionarm befindet, unserem eigenen Spiralarm der Galaxis. Das Signal hat den Orionnebel durchquert, eine Quelle massiver Interferenzen, sodass es schwierig ist, genau zu bestimmen, welche Strecke es zurückgelegt hat. Angenommen, dass es von einem Planeten im Gürtel des Orion stammt, handelt es sich um eine Entfernung von mindestens fünfzehnhundert bis achtzehnhundert Lichtjahren.«
»Und dieses Signal haben Sie drei Stunden lang empfangen?«
»Drei Stunden und zweiundzwanzig Minuten, um genau zu sein, Senator«, platzt Kenny Wong heraus. Der junge Mann hat Haltung angenommen.
Chaney fordert ihn mit einem Wink auf, sich wieder zu setzen. »Und weitere Signale hat es nicht gegeben, Mr. Dodds?«
»Nein, Sir, aber wir überwachen die Frequenz und die Richtung des Signals weiterhin rund um die Uhr.«
»Na schön. Nehmen wir mal an, dass es sich um ein echtes Signal gehandelt hat. Was ergibt das für Schlussfolgerungen?«
»Nun, Sir, die nahe liegendste und aufregendste Erklärung wäre, dass wir nun einen Beweis dafür haben, nicht allein zu sein. Das heißt, irgendwo innerhalb unserer Galaxis existiert mindestens eine weitere intelligente Lebensform. Unser nächster Schritt ist es, zu bestimmen, ob in diesem Signal bestimmte Muster oder Algorithmen verborgen sind.«
»Sie glauben, das Signal könnte irgendeine Art von Kommunikation
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