2012 - Schatten der Verdammnis
Castillo< gaben. Imposant ragen die neun Stockwerke des gestuften Baus etwa dreißig Meter hoch über einer offenen Rasenfläche auf.
Das Kukulkan gewidmete Heiligtum ist mehr als nur eine Pyramide, es stellt einen Kalender in Stein dar. An jeder seiner vier Seiten führen einundneunzig Stufen empor. Einschließlich der Plattform ergibt sich die Zahl der dreihundertfünfundsechzig Tage des Jahres.
Für die Archäologen und andere Wissenschaftler ist die blutrote Pyramide noch immer ein Rätsel, denn ihr Bauplan verweist auf ein astronomisches und mathematisches Wissen, das dem der heutigen Zeit gleichkommt. Der Bau ist geografisch so ausgerichtet, dass zweimal im Jahr, zur Zeit der Tagundnachtgleiche im Frühling und im Herbst, an seiner Nordseite seltsame Schatten erscheinen. Während sich die Sonne am späten Nachmittag auf den Horizont zu bewegt, gleitet der gewaltige Schatten eines Schlangenkörpers die Stufen herab, bis er auf seinen in Stein gehauenen Kopf trifft, der sich am Fuß des Baus befindet. Diese Bewegung ist im Frühling zu beobachten; im Herbst tritt dieselbe Illusion in umgekehrter Richtung auf.
Auf der obersten Plattform der Pyramide erhebt sich ein quadratischer Tempel, der ursprünglich für die Verehrung der Gottheit gedacht war. Erst später, nach dem Verschwinden Kukulkans, fanden hier Menschenopfer statt. Der wahrscheinlich um 830 n. Chr. entstandene Gesamtbau wurde über einem wesentlich älteren Vorläufer errichtet, dessen Reste nur durch ein Tor an der Nordseite zugänglich sind. Dort führt ein klaustrophobisch enger Gang zu einer schmalen Treppe mit von der Feuchtigkeit schlüpfrigen Stufen. Steigt man sie hinab, gelangt man in zwei enge Kammern. Die erste enthält
eine so genannte Chacmol-Skulptur, eine Maya-Statue mit einer kultischen Platte für die Herzen der Geopferten. Hinter dem Schutzgitter der zweiten Kammer steht ein Thron in Gestalt eines roten Jaguars, dessen Jade-Augen grün leuchten.
Brent Nakamura, ein Tourist aus San Francisco, schaltet seine Videokamera ein und schwenkt sie über die wogende Masse schwitzender Körper. Mensch, was für ein Getümmel. Bestimmt stecke ich nachher stundenlang im Stau.
Nakamura richtet seine Kamera wieder auf die Nordseite der Pyramide und holt den Schatten des Schlangenschwanzes heran, während dieser seine zweihundertzwei Minuten dauernde Wanderung über die Stufen des zwölfhundert Jahre alten Heiligtums fortsetzt.
Der beißende Geruch menschlichen Schweißes hängt schwer in der feuchten Nachmittagsluft. Nakamura nimmt ein kanadisches Paar auf, das mit zwei Wächtern streitet; dann stellt er seinen Camcorder ab, weil sich eine deutsche Familie an ihm vorbeidrängt.
Nach einem Blick auf seine Armbanduhr beschließt Nakamura, ein paar Aufnahmen des Cenote zu machen, bevor das Licht schwindet. Nachdem er über unzählige Touristenbeine gestiegen ist, erreicht er den nach Norden führenden Sacbe, einen in alter Zeit aufgeschütteten Pfad, der in der Nähe der Nordfassade der Kukulkan-Pyramide beginnt. Er führt durch den dichten Dschungel zum zweitwichtigsten Heiligtum von Chichen Itzä, dem >Heiligen Cenote<, einem Frischwasserbecken, das den Maya als Opferbrunnen diente.
Nach fünf Minuten hat Nakamura den Rand des knapp sechzig Meter breiten Beckens erreicht, an dem einst Tausende von jungen Frauen geopfert wurden. Er blickt hinab. Das dunkle, veralgte Wasser zwanzig Meter unter ihm stinkt nach Verwesung.
Ein entferntes Donnern veranlasst ihn, nach oben zu blicken.
Komisch, da steht keine einzige Wolke am Himmel. Viel leicht war das ein Düsenflugzeug.
Das Geräusch wird lauter. Die Touristenschar wirft sich unsichere Blicke zu. Eine Frau schreit auf.
Nakamura spürt seinen Körper zittern. Als er aufs Wasser blickt, sieht er, dass sich Ringe auf der gerade noch so ruhigen Oberfläche ausbreiten.
Mensch, das ist ein Erdbeben!
Erregt grinsend richtet Nakamura seine Kamera auf die Mitte des Cenote.
Die Menge weicht zurück, als das Beben an Stärke zunimmt. Viele flüchten den Sacbe entlang zum Ausgang des Parks, andere schreien auf, als der Boden unter ihren Füßen hochschnellt wie ein Trampolin.
Nakamura vergeht das Grinsen. Was zum Teufel ist das?
Das Wasser im Becken kreist, als habe sich ein Strudel gebildet.
Und dann hören die Erschütterungen genauso unvermittelt auf, wie sie begonnen haben.
Hollywood Beach, Florida
Es ist Jom Kippur, der heiligste Tag des jüdischen Kalenders, und die Synagoge hat sich
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