2012 - Schatten der Verdammnis
bis auf den letzten Platz gefüllt.
Dominique sitzt zwischen ihren Adoptiveltern Edie und Iz Axler. Rabbi Steinberg steht an seinem Pult und lauscht der melodischen Stimme der Kantorin, die vor der Gemeinde ein eindringliches Gebet angestimmt hat.
Seit bald vierundzwanzig Stunden hat Dominique nichts gegessen, wie es die Fastenregeln des Versöhnungsfestes vorschreiben. Sie hat Hunger und außerdem spürt sie, dass bald ihre Tage beginnen werden. Vielleicht
ist sie deshalb so gefühlvoll und kann sich nicht konzentrieren. Vielleicht liegt es daran, dass sie immer wieder an Michael Gabriel denken muss.
Der Rabbi beginnt wieder zu lesen:
»Rosch Haschana ist der Tag des Gedenkens, an Jom Kippur besinnen wir uns. Wer wird um anderer willen leben? Wer wird nach seinem Tod ein Erbe seines Lebens hinterlassen? Wer wird vom Feuer der Gier verzehrt werden, wer wird in den Wassern der Verzweiflung ertrinken? Wer wird nach dem Guten hungern, wer nach Gerechtigkeit dürsten? Wer wird von Lebensangst gepeinigt sein, wer wird aus Mangel an Freunden ersticken? Wer wird am Ende des Tages ruhen und wer sich schlaflos auf einem Bett voll Qual wälzen?«
Dominiques Emotionen kochen hoch, als sie sich vorstellt, wie Mick in seiner Zelle liegt. Bleib ruhig...
»Wessen Zunge wird wie ein spitzes Schwert sein und wessen Worte werden Frieden bringen? Wer wird sich auf die Suche nach der Wahrheit machen, wer wird im Kerker seines Selbst eingeschlossen sein?«
Vor ihrem geistigen Auge sieht sie, wie Mick durch den Hof schreitet, während die Sonne der Tagundnachtgleiche hinter der Betonmauer versinkt.
»Die Engel, von Furcht und Beben ergriffen, verkünden voll Scheu: Dies ist der Tag des Gerichtes! Denn selbst die Bewohner des Himmels werden gerichtet, wenn alle, die auf Erden wohnen, vor Dir aufgereiht stehen.«
Der emotionale Damm bricht. Heiße Tränen laufen Dominique übers Gesicht und vermischen sich mit der Farbe ihres Eyeliners. Verwirrt zwängt sie sich an Iz vorbei und hastet durch den Mittelgang aus der Synagoge.
6
25. September 2012 Washington, D.C.
E nnis Chaney ist müde.
Zwei Jahre sind nun schon vergangen, seit der republikanische Senator aus Pennsylvania seine Mutter zu Grabe getragen hat, und noch immer vermisst er sie sehr. Er vermisst seine Besuche im Pflegeheim, bei denen er ihr stets seine Spezialität, nach einem alten Rezept zubereitetes Schweinekotelett, mitgebracht hat, und er vermisst ihr Lächeln. Auch seine Schwester vermisst er, die elf Monate nach seiner Mutter gestorben ist, und seinen jüngeren Bruder, den ihm der Krebs erst im letzten Monat genommen hat.
Er ballt die Hände zu Fäusten, während seine jüngste Tochter ihm den Rücken massiert. Vier lange Tage sind vergangen, seit mitten in der Nacht das Telefon geläutet hat. Vier Tage, seit sein bester Freund Jim an einem schweren Herzanfall gestorben ist.
Durchs Esszimmerfenster sieht er die Limousine und den Begleitwagen die Einfahrt entlangkommen und seufzt. Keine Ruhe für die Erschöpften, keine Ruhe für die Trauernden. Er umarmt seine Frau und seine drei Töchter,
drückt noch einmal Jims Witwe an sich und verlässt das Haus, begleitet von zwei Bodyguards. Dabei wischt er Tränen aus seinen tief liegenden Augen. Die dunkle Haut, die sie umgibt, lässt den Eindruck eines Waschbärgesichts entstehen. Chaneys Augen sind ein Spiegel seiner Psyche. Sie lassen seine Leidenschaft als Mann und Mensch und seine Klugheit als politischer Führer erkennen. Kommt man ihm in die Quere, werden diese Augen zu unerbittlichen Dolchen.
In letzter Zeit sind Chaneys Augen rot geworden, weil er zu viel geweint hat.
Zögernd setzt sich der Senator auf den Rücksitz der wartenden Limousine; die beiden Leibwächter steigen in das andere Fahrzeug.
Limousinen sind Chaney zuwider. Im Grunde ist ihm alles zuwider, was Aufmerksamkeit auf ihn lenkt oder nach der Art von Vorzugsbehandlung riecht, die hohe Politiker genießen. Er starrt aus dem Fenster und denkt über sein Leben nach. Chaney fragt sich, ob er gerade womöglich einen großen Fehler macht.
Ennis Chaney wurde vor siebenundsechzig Jahren in dem ärmsten Schwarzenviertel von Jacksonville, Florida, geboren. Er wurde von seiner Mutter aufgezogen, die als Putzfrau in den Häusern Weißer für den Lebensunterhalt der Familie sorgte, und von seiner Tante, die er oft als >Mama< bezeichnet hat. Seinen eigentlichen Vater, der wenige Monate nach seiner Geburt verschwand, hat er nie kennen gelernt. Als er zwei
Weitere Kostenlose Bücher