2012 - Schatten der Verdammnis
sofort an das Verkehrsministerium weitergeleitet, das die entsprechende Maut zu ihrer Monatsrechnung addiert. Auf der nächsten Meile bleibt sie unter fünfzig, wohl wissend, dass sie sich noch in Reichweite der automatischen Radarpistole des Systems befindet.
Dominique lenkt den Roadster über die Brücke nach Sanibel and Captiva Island, einem Wohn- und Urlaubsort, der idyllisch auf einer kleinen Insel vor der Küste Floridas im Golf von Mexiko liegt. Auf der zweispurigen, von hohen, schattigen Bäumen gesäumten Straße fährt sie erst nach Norden und dann in einem Bogen
nach Westen. An mehreren großen Hotels vorbei gelangt sie in ein Wohnviertel.
Edith und Isadore Axler wohnen in einer zweistöckigen, würfelförmigen Strandvilla, die auf einem zweitausend Quadratmeter großen Grundstück direkt am Golf von Mexiko steht. Auf den ersten Blick vermittelt die Einfriedung aus Redwood-Planken, die das Haus umgibt, den Eindruck einer riesigen Partylaterne, besonders bei Nacht. Der hölzerne Wall soll den Bau vor Stürmen schützen und lässt gleichzeitig ein Haus im Haus entstehen.
In den renovierten Südflügel der Axler-Villa ist ein hochmodernes Akustiklabor eingebaut worden. Es ist eine von drei Stationen an der Golfküste, die mit SOSUS verbunden sind, dem Unterwasserüberwachungssystem der US-Marine. Die sechzehn Milliarden Dollar teure Anordnung aus Unterwassermikrofonen, die die amerikanische Regierung in der Zeit des Kalten Kriegs aufgebaut hat, um feindliche U-Boote zu belauschen, zieht sich über den ganzen Globus und ist mit einem insgesamt fünfzigtausend Kilometer langen Netz aus Unterseekabeln mit Küstenstationen der Marine verbunden.
Als das militärische Interesse an SOSUS nach 1990 zu schwinden begann, wurden Wissenschaftler, Universitäten und Privatfirmen bei der Marine vorstellig; und tatsächlich bekamen sie Zugang zu dem akustischen Netz. Für die Ozeanografie hat SOSUS seither dieselbe Funktion wie das Hubble-Weltraumteleskop für die Weltraumforschung. Nun ist es möglich, die extrem niederfrequenten Vibrationen zu hören, die entstehen, wenn Eisberge zerbersten, wenn der Meeresboden bebt und wenn Unterwasservulkane ausbrechen. Normalerweise liegen solche Geräusche weit außerhalb des menschlichen Hörvermögens.
Marinebiologen wie Isadore Axler hat SOSUS eine neue Möglichkeit verschafft, die intelligentesten Meereslebewesen
der Erde zu erforschen: die Wale. Mit Unterstützung einer nationalen Forschungsstiftung ist aus dem Haus der Axlers ein Lauschposten geworden, der sich vor allem mit den Walen im Golf von Mexiko beschäftigt. Mithilfe von SOSUS können die Axlers nun die Stimmen der großen Meeressäuger aufzeichnen und analysieren, die einzelnen Arten identifizieren, die Populationen zählen und sogar einzelne Exemplare auf ihrem Weg durch die Meere der nördlichen Hemisphäre verfolgen.
Dominique biegt nach links in eine Sackgasse ein und dann rechts in die letzte Einfahrt. Das vertraute Geräusch der unter den Rädern ihres Roadsters knirschenden Kiesel klingt tröstlich.
Edith Axler begrüßt sie, noch während sich das Top des offenen Wagens schließt. Sie ist eine scharfsinnige Frau Anfang siebzig, mit grauen Haaren, braunen, lebensklugen Augen voll Weisheit und einem warmen Lächeln, das mütterliche Zuneigung ausstrahlt.
»Tag, Schatz. Wie war die Fahrt?«
»Schön.« Dominique umarmt ihre Adoptivmutter und zieht sie eng an sich.
»Ist was passiert?« Edith weicht zurück, als sie die Tränen sieht. »Was ist denn?«
»Nichts. Ich bin nur froh, zu Hause zu sein.«
»Halt mich bloß nicht für senil. Es geht um deinen Patienten, stimmt’s? Wie heißt er noch - Mick?«
Dominique nickt. »Mein ehemaliger Patient.«
»Komm schon, wir reden darüber, bevor Iz rauskommt.« Edith nimmt sie an der Hand und führt sie zu dem zum Meer führenden Kanal an der Südseite des Grundstücks. An dem Betondamm sind zwei Boote festgemacht. Das kleinere davon ist ein elf Meter langes Fischerboot, das den Axlers gehört.
Hand in Hand setzen sie sich auf eine Holzbank am Wasser.
Dominique beobachtet einen grauweißen Pelikan, der auf einem der Holzpfähle in der Sonne hockt. »Ich weiß noch, wie du früher immer mit mir hier draußen gesessen hast, wenn es mir schlecht ging.«
Edith nickt. »Das war schon immer mein Lieblingsplatz.«
»Oft hast du gesagt: So schlimm kann’s eigentlich nicht sein, wenn man noch die Möglichkeit hat, so einen schönen Blick zu genießen.«
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