2.02 Der fluesternde Riese
kreuzweise! Ihr wisst, was ich meine. Und Willi besonders.
„Für immer voll von dieser Wut!“
Wir schworen es alle. Wir legten dafür unsere Beine ins Feuer. Unsere Beine und Herzen, ja, und unsere Seelen:
„Sei immer wild!
Sei immer gut!
Egal was du tust!“
Wir schworen und sangen diese sechs Zeilen, und wir sangen sie immer noch, als wir uns endlich – eine Stunde nach Sonnenuntergang oder noch später – auf den Weg nach Hause machten.
EIN TAG MIT VANESSA
Die Nacht war ein Traum. Ich lag auf meiner Matratze und unter der Decke, als hätte man beides um mich herummodelliert. Und wenn ich mich trotzdem einmal bewegte, war die neue Position einfach und absolut unerklärlich noch einmal fantastischer und bequemer.
Huh, das tat vielleicht gut. Nach all den Strapazen um Donnerschlag , um das „Ich-lass-die-Hosen-runter-Spiel“ und die Wiedergeburt der Wilden Kerle war diese Nacht wie zehnmal Sommerferien hintereinander. Doch während mein Bruder Leon der Weltmeister unter den Langschläfern war, war ich mit dem ersten Sonnenstrahl wach. Ich ließ ihn in meine Augen tauchen. Ich spürte sein Licht in den Adern, im Kopf und im Herz, und dann sprang ich aus dem Bett, unter die Dusche und in die Küche, wo mein Vater schon am Frühstückstisch saß.
Er schaute mich an, als wär ich ein Marsmensch mit einem giftgrünen, zu einer Gurke aufgeblasenen Kopf, und er machte dazu eine betretene Miene, als wäre die ganze Welt untergegangen.
„Morgen, Papa! Ist alles klar?“, fragte ich ihn verstört und hatte tatsächlich schon vergessen, dass auch er zu Willis Mannschaft gehörte.
„Ach ja, und bei dir?“, fragte er düster zurück.
„Uhps!“, stutzte ich und verschluckte mich dabei beinah am Müsli. „Bei mir ist heute Nacht keiner gestorben.“
Ich grinste ihn an.
„Aber vielleicht bist du ja jetzt in der Midlife-Crisis.“
Das Müsli schmeckte einfach fantastisch. Es war die perfekte Fortsetzung der Nacht, und ich konnte an nichts Schlechtes denken.
„Aber mach dir nichts draus“, lachte ich deshalb vergnügt. „Das ist eine Krankheit, die man überlebt. Auf jeden Fall kann man sie überleben, wenn man nicht so wie Willi wird.“
„Aha, und wie ist Willi nach deiner Meinung geworden?“, fragte mein Vater arglistig nach.
„Er ist so wie Billi. Er ist jetzt ein Penner.“ Ich hielt ganz kurz inne, denn für den kaum spürbaren Hauch eines ängstlichen Herzschlags war meine gute Laune verschwunden. Doch dafür hatte ich keine Zeit.
„Aber wir brauchen ihn nicht mehr!“, fand ich in mein Lachen zurück. „Wir brauchen jetzt keinen von euch alten Säcken. Wir haben unser Leben nicht auf einem Schrottplatz versteckt.“
Ich lief schon zur Tür.
„Nein, ganz im Gegenteil, Papa. Wir zeigen es euch. Euch und jedem Ex-Wilden-Kerl. Wir zeigen es Rocce und Fabi und Co., dass wir noch immer die Besten sind.“
Ich sprang auf mein Fahrrad und raste zum Tor. Da rief mir mein Vater hinterher:
„Und was ist mit Vanessa? Zeigst du’s ihr auch?“
„Und ob ich das tue!“, rief ich lachend zurück. „Was meinst du, wohin ich gerade fahre!“
Ich trat in die Pedale, und als die beiden Schwungradturbos im alten Triumphtank zu sirren begannen, sang ich dazu den Text unseres Schwurs.
Ich raste quer durch die Stadt und hinunter zum Fluss, an dem, zu Füßen des Steilufers, der Bombentrichter lag: ein im Zweiten Weltkrieg zerbombtes Stück Wald, das jetzt ein natürlicher BMX-Parcours war. Hier hatten wir Vanessa damals gestellt, um ihr auf unsere Weise zu sagen, dass wir die unverschämte Einladung zu ihrem Geburtstagsfußballturnier nur zu gerne annehmen würden. 31 Ja, und hier hatten wir Fabi, den Verräter, bestraft, als er sich davonstehlen wollte, um bei den Bayern zu spielen. 32
Doch an all das dachte ich nicht. Ich dachte stattdessen an die unzähligen Sonntagmorgen, an denen ich mich mit Vanessa hier traf, um über die Schanzen und Rampen zu springen. Ja, seitdem ich Vanessa, die Unerschrockene, kannte, liebte sie ihr Fully-Mountain-Bike mit dem extrabreiten Hinterradreifen mehr, als andere Mädchen Pferde lieben. Fahrrad fahren war für sie Freiheit pur, und weil das so war, wusste ich, dass ich sie an einem so fantastischen Ferienmorgen an keinem anderen Ort finden konnte.
Und ich hatte recht. Ich preschte die Steilwand hinunter in den Parcours, als sie gerade über die Dreifach-Rampe sprang. Drei Sprünge bis auf sechs Meter Höhe – man konnte fast über die Baumwipfel schauen
Weitere Kostenlose Bücher