2030 - Chimaerenblut
Leben. Nach einer Zuflucht unter Menschen. Unter Freunden.
Für einen Moment war sie in Panik verfallen, als der Mann mit dem blonden Zopf das Licht angeschaltet hatte. Glücklicherweise hatte neben ihm eine Schweine-Chimäre gestanden und sie angegrunzt. Der Mann mit der Schweinenase erinnerte sie an die Kindergeschichten vom »Sams«. Auch der Mann mit der Augenklappe war eine Chimäre. Augenblicklich hatte sein nackter Oberkörper die Maserung der Holzwände angenommen. Er hatte sich zu ihr hinuntergehockt, und in seiner Stimme lag Freundlichkeit, obwohl er wie ein Seeräuber aussah. Er hatte sich mit dem Namen Constantin von Graef vorgestellt. Die Schweine-Chimäre nannte sich Lars Lundberg.
Lars hatte Tee gekocht und sich entschuldigt, er habe sie nicht erschrecken wollen. Dann war er gegangen, um den alten Rollstuhl von Constantin zu suchen und für sie anzupassen. Sie verhielten sich wie Freunde. Josi blickte in die Teetasse, trank einen Schluck und fühlte wie die Wärme langsam in ihren Bauch kroch.
Eine Chinesin mit weißen Haarsträhnen und Tigerstreifen auf einer Gesichtshälfte und auf den Armen reichte ihr ein trockenes Hemd.
»Wong Dai Yu , alle nennen mich hier Yu . Hast du auch einen Namen?«
»Josefine, aber alle sagen Josi.«
Yu setzte sich mit einer Kaffeetasse auf eine Wasserkiste und sah zu, während Josi sich das trockene Shirt überzog.
Josi trank einen weiteren Schluck Tee und blickte verstohlen zurück. Die Chinesin wirkte in ihrem engen Muskelshirt so sportlich wie Lenka. Ihrer perlmuttfarbenen Iris haftete etwas Gefährliches an. Sicher eine Raubkatze, überlegte Josi und nahm erneut einen Schluck Tee.
»Weißer Tiger!«, sagte Yu unvermittelt. Konnte sie Gedanken lesen? »Und du? Leopardenhai?«
Josi nickte.
»Bleiben die Streifen?«
»Ich weiß es nicht. Nur Jungtiere sehen so aus …« Josi schossen Tränen in die Augen.
Constantin kam mit einem Kissen und einem Röhrchen mit Tabletten zurück. Er stopfte das Kissen hinter Josis Rücken und gab ihr eine hellblaue Tablette.
»Hier. Zerkau die! Helfen gegen Depressionen. Erste Hilfe sozusagen.«
»Was ist das?«
»Frag besser nicht.« Er sah sie ernst an. »Ich habe deine Angaben überprüft. Ist ein ganz schön großes Ding, diese Super-Yacht der Familie Hilden, von der du gehüpft bist. Ich versichere dir, ich kenne mich aus mit Superreichen. Ich habe selbst mal dazugehört.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Das ist eine lange Geschichte. Hier an Bord gibt es nur Chimären. Du bist nicht mehr alleine. Nur das zählt jetzt für dich.« Er drückte ihre Hand.
Josi zerkaute die Tablette. Ihr Blick fiel erneut auf die Tiger-Chimäre Yu . Sie lehnte entspannt an einer Schrankwand und umklammerte gähnend den dampfenden Pott mit Kaffee.
Ein weiterer Mann, ebenfalls mit Katzenmaserung – grauen und weißen Streifen auf schwarzer Haut – und schräg stehenden grünen Augen, steckte den Kopf zur Tür herein. »Morgen, bin Ben« murmelte er, nahm sich einen Pott Kaffee vom Tresen und ging wieder.
Lars kam zurück. »Hab‘ ich einen Bärenhunger. Ich mach uns erst mal ein ordentliches Frühstück. Josefine, wann hast du das letzte Mal was Vernünftiges gegessen? Wie wäre es mit Rührei und Speck?«
Josi schüttelte den Kopf. Die Tablette begann zu wirken. Ihr Herz hörte auf gegen den Brustkorb zu hämmern, und das schmerzhafte Krampfen der Schwanzflosse ließ endlich nach. Sie fühlte sich, als hätte sie ein Glas Wein getrunken.
»Rührei mit Fisch?«
»Nur Rührei, mit Toast. Wäre gut!«, antwortete sie mit schwerer Zunge.
Lars grunzte, »wie der Kapitän.« Dann drehte er sich in Yus Richtung. »Und ihr beide mit Speck?!«
67
Dienstag, 4. Juni, Kaliningrad:
Leon wusste inzwischen den Namen der maisblonden Frau. Irina! Sie hatte in Deutschland studiert, durfte aber nicht bleiben. Der Gorilla mit dem Bürstenhaarschnitt nannte sich Ivan, das hatte sie ihm zugeflüstert. »Gefährlicher Mann.« Ihre Stimme hatte gezittert. Dann war sie an Ivan vorbeigehuscht, und der Russe hatte ihr in den Po gekniffen.
Irina und Ivan hatten Leon bei allen ärztlichen Untersuchungen und Sportstunden der letzten beiden Tage begleitet. Leon war sich inzwischen sicher, in einer Forschungseinrichtung für zahlungskräftige Russen gelandet zu sein. Für Millionäre, die sich Schönheitsoperationen leisten konnten und hier ihre Missbildungen korrigieren ließen. Im hoch gesicherten Seitentrakt, wo Leon gefangen gehalten wurde,
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