2030 - Chimaerenblut
bitte! Lassen Sie mich das noch sagen, damit Sie verstehen, welche enorme Leistung man der Rechtswissenschaft in den vergangenen Jahren abverlangt hat. Unser ethisches Denken wurde über Nacht von den wissenschaftlichen Ereignissen überrollt. Bis dahin galt der Mensch als die Krone der Schöpfung und das Tier als mit niederen Instinkten ausgestattet. An dieser Auffassung hat sich nebenbei bemerkt bis heute nichts geändert. Es war und ist legitim, Tiere als Nahrung und für medizinische Zwecke zu verwenden. Tiere gehören zur Gruppe der Sachen; auf sie ist das für Sachen geltende Recht anzuwenden, und sie haben keinen Anspruch auf personenbezogene Menschenrechte.«
Einige Studenten schrien »Buh« und trommelten auf den Tischen.
»Lassen Sie mich bitte ausreden! Wenn Sie die Grundlagen dieses Rechtsstaates nicht verstanden haben, dann wiederholen Sie die Anfangssemester. Und nun zurück zu den Chimären, den Halbwesen.« Wieder folgten Buhs. Der Professor fuhr fort. »Die juristische Grenze zwischen Mensch und Tier begann erstmals zu verschwimmen, als Wissenschaftler zwei befruchtete Eizellen, eine von einem Menschen und eine von einem Tier, im Wenigzell -Stadium miteinander verklebten. Seither ist die Frage zu beantworten, wie viele humane Zellen nötig sind, um einem Tier Persönlichkeitsrechte zuzugestehen. Oder andersherum, wie viele tierische Zellen machen den Homo sapiens zum Tier und damit zur Laborratte, zum Organlager oder zum entrechteten Sklaven.«
»Endlich kommen Sie zum Thema«, schrie eine Studentin mit hochstehenden Ohren und runder Nickelbrille.
»In den darauf folgenden Jahren musste bei jedem Forschungsantrag neu entschieden werden. Ethikkommissionen und eine Flut von Gesetzen klärten, ob Persönlichkeitsrechte betroffen waren, Gesetze gegen die Sklaverei oder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Im Folgenden will ich die wichtigsten Fälle der vergangenen Jahre auflisten…«
Ethan blickte in seinen Plan. »Lass uns einen Kaffee trinken. Oder interessiert dich das?«
Josi erhob sich. Bisher hatte sie nichts Neues erfahren. Sie hatten das Thema im Ethikunterricht und im Leistungskurs Humanbiologie bei der Lerneinheit Biomedizin. Sie wusste, der Professor würde nun über die Stammzell- und Embryonenforschung der letzten dreißig Jahre berichten. Über das gezielte Erschaffen von Tier-Mensch-Chimären, das Verschmelzen von Eiern und die Austragung über das Stadium von Zellklumpen hinaus. Systematisch hatten die Wissenschaftler verschiedene Spezies erforscht, die per Gesetz schon vor der Geburt unwiderruflich dem Tier zugeordnet waren. Forscher von der Stanford-Universität forderten 2005 bereits, wenn Mäuse mit Menschenhirn Menschenähnlichkeit zeigten, sollte man sie töten. Und schließlich passierten die Sonderfälle, bei denen Chimären allzu menschlich gerieten. Erst nachdem Menschenrechtler auf die Barrikaden gegangen waren, gewährte man diesen Laborzüchtungen aus humanitären Gründen Schutz.
Josi würde nichts verpassen. Der Kaffee würde ihr guttun, sie hatte letzte Nacht kaum geschlafen.
Geduckt schlichen sie aus dem Raum.
Als sie von der Kaffeepause zurückkamen, hatte die Diskussion bereits begonnen.
»Du meine Güte, es waren damals doch nur Mäuse oder Affen mit menschlichen Gehirnzellen«, meldete sich eine Studentin zu Wort. »Damit wurden sie nicht zum Menschen.«
»Genau das hat man in der Forschung jahrzehntelang so gesehen«, antwortete der Professor. »Für heikle Fälle gibt es Ethikkommissionen, aber bis heute keine eindeutigen Regelungen.«
Der Präsident der Uni schaltete sich dazwischen. »Ich danke Ihnen für Ihren Vortrag, Herr Professor Higgens . Lassen Sie mich jetzt überleiten zum nächsten Thema. Die weltweite Chimären-Katastrophe vor sieben Jahren…«
Josi schnappte nach Luft. Als Katastrophe bezeichnete er sie und alle anderen Chimären. Aber hatte sie nicht selbst jede Veränderung ihres Körpers als Katastrophe begriffen? Sie griff sich an den Hals. Die fünfte Kieme – eine totale Katastrophe!
Tränen stiegen ihr in die Augen. Ethan berührte ihre Hand. »Geht es dir nicht gut?«, flüsterte er.
»Nein.« Sie schluckte und zog die Hand weg.
»…anfangs unbemerkt wandelten sich Menschen zu Chimären«, fasste der Präsident der Uni die Geschehnisse zusammen, die mit der Großen Influenza und der Passivimpfung begonnen hatten. »Auf diese Menschen treffen sämtliche bis dahin getroffenen Gesetze und Entscheidungen der
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