208 - Nach der Eiszeit
wurden.
Die Lehrer standen wie vom Donner gerührt. Ruundu suchte genauso nach Worten wie Banyaar, der von seinem Thron aufgesprungen war.
»De Höhner« sangen fröhlich weiter, bis Yao dem ein Ende machte. Er legte die Singende Scheibe ein, die der Schamane traditionell im linken Ohr trug. »Herzilein, du musst net traurig sein«, schmetterten die Wildecker Herzbuam unter ebenfalls schrecklichem Gekratze. Aber die heiligen Worte, die der Huutsi-Schamane bei der Scheidungszeremonie für Eheleute sprach, waren ebenfalls deutlich hörbar.
Ruundu zitterte, während Banyaar bleich wie eine der weißen Wände von Kiegal wurde. Das verstärkte sich noch, als Joe Cockers »Hymn from my Soul« ertönte.
Vor allem das »Long as I can see the light« wurde zumindest in Fragmenten von den Anwesenden verstanden. Der Schamane der Huutsi betete es immer dann, wenn die Sonne besonders kräftig geschienen hatte.
Koroh fiel auf die Knie und legte seine rechte Hand vorsichtig auf den CD-Player, als der letzte Song verklungen war. »Ja, das sind sie, die Uni-Regeln«, flüsterte er. »Unser heiliges Buch. Doch leider verstehen wir außer ein paar Worten nichts mehr von den gesetzgebenden Sätzen. Zu lange waren die Uni-Regeln verschollen. Unsere Sprache hat sich zu sehr verändert. Was also sollen wir daraus noch erkennen?«
Die Alten murmelten beifällig. Keiner begriff, dass Koroh und Yao diesen Dialog zuvor eingeübt hatten.
»Ja, Koroh, das dachte ich zuerst auch«, gab der Erste Maschiinwart zurück. »Doch es ist wie ein Wunder. Der grüne Gott der Wawaas ist zur rechten Zeit bei uns erschienen. Er versteht jedes Wort unseres heiligen Buches und kann es uns Silbe für Silbe übersetzen.«
»Das glaube ich nicht!«, ging Ruundu dazwischen.
Im nächsten Moment wälzte er sich brüllend und kreischend auf dem Boden. Leise schluchzend blieb er schließlich sitzen.
(Will noch jemand von euch elendem Gezücht daran zweifeln, dass ich, der grüne Gott, in der Lage bin, euer Gesetzbuch zu lesen?) Mul’hal’waaks mentale Stimme donnerte in den Geistern der Lehrer. Die senkten ihre Köpfe. Keiner wagte offenen Widerstand. Auch Banyaar nicht.
Koroh fragte den grünen Gott, was die Uni-Regeln über den Königsstatus bei den Huutsi sagten.
(Das ist sehr deutlich geregelt, Schamane), gab Mul’hal’waak mental zurück. (Derjenige, der am stärksten und am besten geeignet ist, das Volk der Huutsi zuführen, muss König werden. Dass die Königswürde vererbt wird, davon steht nichts in den Uni-Regeln .) Die Lehrer starrten vor sich hin. In manchen Augen spiegelte sich das blanke Entsetzen. Noch konnte keiner richtig begreifen, was er da soeben gehört hatte. Und keiner wagte Banyaar anzusehen, der empört aufgesprungen war. »Betrug! Lüge!«, schrie der Prinz nun doch. Außer sich schlug er mit seinem Stab gegen die Wand. Sein Gesicht war zur Fratze verzerrt. »Ihr werdet nicht etwa so einen Schwachsinn glauben, ihr weisen Männer! Das ist nichts als ein übler Trick von diesem… diesem Yao, diesem Stück Dreck!«
Yao ballte die Fäuste. Es sah aus, als wolle er Banyaar anspringen. Die Lehrer standen starr und stumm. Sie fürchteten die Rache des grünen Gottes und wussten zudem nicht, wie sie der Entweihung dieses altehrwürdigen Ortes und der Konferenz entgegen treten sollten.
Nur Koroh war noch handlungsfähig. Entschlossen ging er zwischen die beiden Todfeinde. »Halt!«, rief er energisch. »Genug der Blasphemien. Ich bitte sowohl den Prinzen als auch den Ersten Maschiinwart, das Rektorat zu verlassen. Wir Lehrer werden uns über das Gehörte beraten und euch das Ergebnis wissen lassen.«
Banyaar und Yao gingen hinaus. Letzterer nahm den grünen Kristall wieder mit. So entstand zumindest der Eindruck, die Konferenz könne frei entscheiden. Auch Ruundu war so weit wieder hergestellt, dass er an der Beratung teilnehmen konnte.
Koroh warf sein ganzes Gewicht als Oberlehrer in die Waagschale. Er schwor die Alten ein, indem er sie alle die Hand auf die Uni-Regeln legen ließ, und machte sich dann dafür stark, dass der König künftig unter den stärksten Männern der Huutsi gewählt wurde.
Seltsamerweise unterstützte ihn Ruundu dabei.
Wahrscheinlich wollte sich der Alte die fürchterlichen Schmerzen einer neuerlichen Gottesattacke ersparen.
Noch am Abend wurde das Ergebnis in aller Öffentlichkeit verkündet. Die Lehrer hatten
»einstimmig« beschlossen, dass Banyaar nicht einfach König werden konnte. Er musste sich
Weitere Kostenlose Bücher