208 - Nach der Eiszeit
Huutsis, ob nun ermordet oder eines natürlichen Todes gestorben, interessierten die Lehrer herzlich wenig. Der Tod war nun mal Teil des Lebens.
Dafür widmeten sie den aufgefundenen Uni-Regeln umso mehr Aufmerksamkeit. Rufe wurden laut, in denen Erstaunen und Entzücken zugleich mitschwangen. Aber auch unverhohlene Skepsis. Einige der Lehrer standen auf und strichen über den viereckigen Kasten, den Yao ihnen präsentierte.
»Das sollen die Uni-Regeln sein?«, ergriff schließlich Ruundu, der aktuell Zweitälteste Huutsi, das Wort.
»Bisher dachte ich immer, unsere heilige Schrift sei eine Art Buch, in dem die Regeln unseres Zusammenlebens deutlich sichtbar niedergeschrieben sind. Hier aber sehe ich nichts. Das ist nur ein Behälter. Wenn auch ein schwerer.«
Er schaute Beifall heischend in die Runde. Banyaars Grinsen erfreute ihn sichtlich, denn Ruundu war als glühender Verehrer des Königshauses bekannt.
»Ich bitte um einen Moment Geduld, hoch verehrte Lehrer«, warf Yao ein. »Bevor ich weiter mache, möchte ich der Konferenz eine Frage stellen. Ihr ältesten und weisen Männer der Huutsis, ist es richtig, dass unsere Schamanen seit Jahrhunderten die Regeln unseres Zusammenlebens weitergeben und überwachen, auch wenn unsere heilige Schrift verschollen ist?«
»Ja, natürlich.« Ein leises Murmeln setzte ein. Fast alle Lehrer blickten Koroh an. Der Oberlehrer nickte. »So ist es, Yao.«
»Gut. Ist es nicht sogar so, dass einige unserer ehernen Gesetze und Regeln nur der Schamane ganz alleine durchführen darf? Ich erinnere zum Beispiel an die Hochzeitszeremonie, wenn wir Papa Lava mit seinen Bräuten vermählen.«
»So ist es.« – »Das ist nichts Neues!«
»Habt etwas Geduld mit mir, ihr weisen Lehrer« , erwiderte Yao demütig, ohne wirklich so zu wirken.
»Wenn ich euch nun beweise, dass die heiligen Worte, die unsere Schamanen seit vielen Jahrhunderten sprechen, in diesem Kasten enthalten sind, glaubt ihr mir dann, dass es sich um die Uni-Regeln handelt?«
Es wurde schlagartig still. Unter den misstrauischen Blicken vor allem von Banyaar öffnete Yao einen Verschluss. Er holte den CD-Player, den sie aus den Beständen der Pygmas auf Geheiß ihres Gottes mitgenommen hatten, hervor und stellte ihn auf den Tisch. Dann nahm das Flies mit den Solarkollektoren aus der Truhe, entrollte es und platzierte es im Sonnenlicht, bevor er den Stecker in das Gerät einführte, so wie Gott Papalegba es ihm gezeigt hatte.
»Was ist das?«, wollte Ruundu wissen. »Eine Art Maschiin?«
Yao sah in die Runde. »Ja, eine Art Maschiin. Das sind die Uni-Regeln in der Tat.« Er drückte auf einen Knopf, unter dem »Power« stand. Ein grünes Licht blinkte auf. Das beeindruckte die Lehrer, die selbiges aus den Fabriken gewohnt waren, noch nicht im Geringsten.
Yao drückte auf »Eject«. Ein Schacht öffnete sich.
»Aha«, sagte Ruundu.
Der Erste Maschiinwart, den Mul’hal’waak im Umgang mit dem CD-Player gründlich konditioniert hatte, deutete auf Koroh. »Ihr alle wisst, dass die Singenden Scheiben des Schamanen zu den größten Heiligtümern der Huutsi gehören. Sie sind Zeichen seiner unumschränkten Macht.«
»Ja, das wissen wir durchaus«, sagte Ruundu höhnisch.
»Und warum sind sie das?«
Darauf wusste niemand eine Antwort.
»Ganz einfach. Weil sie von den Uni-Regeln selbst abstammen!«
Yaos Worte schlugen ein wie eine Lava-Fontäne. Die Alten starrten ihn an.
»Ich bitte dich, mir deine Singenden Scheiben zu überlassen«, führte Yao das abgekartete Spiel fort, in das Koroh natürlich eingeweiht war. »Wie ihr alle wisst, darf unser Schamane den Heiligschein nur zu den Brautzeremonien mit Papa Lava tragen. Ich habe Koroh trotzdem gebeten, auch diese Singende Scheibe heute mitzubringen. Denn sie dient der Wahrheitsfindung.«
Der Schamane zögerte theatralisch. Dann nahm er die Scheiben von seinem Ohr und seinem Hinterkopf. Er reichte sie Yao. Der nahm zuerst den Heiligschein, die uralte CD, die üblicherweise an einem Gestell über dem Hinterhaupt des Schamanen prangte, und legte sie in den Schacht. Gleich darauf ertönte laute Musik.
Die Lehrer fuhren zusammen. Schreckensrufe wurden laut. Obwohl sie mit Tekknik vertraut waren, hatten sie Ähnliches zuvor noch nicht erlebt.
Es kratzte gewaltig, aber die heiligen Worte waren schließlich doch für alle hörbar.
»Dasimmer dabei. Datis prihma. Viiva Kolooniah«, ertönte der heilige Refrain, mit dem die Brautzeremonien seit Jahrhunderten begleitet
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