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2084 - Noras Welt (German Edition)

2084 - Noras Welt (German Edition)

Titel: 2084 - Noras Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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die Bildschirmoberfläche – doch es ist ein makabrer Tanz.
    Sie hat Zugang zu allen Nachrichtensendungen, Reportagen und Dokumentarfilmen der Welt, und die Apps wählen nach von ihr selbst definierten Kriterien aus, was sie zu sehen bekommt. Sie hat Zugang zu allem. Es gibt keine Grenzen mehr auf dem Planeten. No borders on the planet. No borders of perception. She’s dropping electronics. She’s online. She’s hooked online.
    Sie zoomt vor und zurück. Das Terminal ist wie eine Zeitmaschine. Sinneseindrücke sickern in sie ein. Das Gerät besitzt gute Lautsprecher, und viele Eindrücke erreichen die Seele auch über die Ohren. Sie sieht nicht nur, wie die Menschen die Regenwälder abholzen, sie hört auch die Motorsägen kreischen. Sie sieht das Wüten der Flammen und hört das Feuer knistern. Sie sieht die beängstigenden Bilder von Orkanen und Wirbelstürmen, und sie hört das Wasser plätschern, den Wind heulen und die Menschen weinen.
    Sie erlebt mit, wie die Weltbevölkerung schrittweise reduziert wird, wie Millionen Menschen Hunger und Klimakatastrophen zum Opfer fallen und Millionen andere in den letzten Kriegen sterben – Eroberungskriegen, in denen es um die letzten Ressourcen geht, um Fischerei und fruchtbaren Boden. Seit Beginn des Desasters hat es keine richtige Volkszählung mehr gegeben, aber vermutlich gibt es inzwischen weniger als eine Milliarde Menschen auf der Welt.
    Keine der Landschaften, durch die sie sich zappt, ist imaginär. Sie darf nur nicht vergessen, die zwei Koordinaten dieses Spiels im Kopf zu behalten: Raum und Zeit. Der Amazonas anno 1960 ist nicht der Amazonas anno 2060. Die Serengeti anno 2080 ist nicht die Serengeti anno 1980. Der Planet Erde anno 2084 ist nicht der Planet Erde anno 2012.
    Anno Nora ist nicht anno Nova. Es ist nicht mehr 5 vor 12. Es ist 12 … 12.
    Sie kehrt ein letztes Mal zurück zur Welt, wie sie war: zu den endlosen Regenwäldern, Savannen, Korallenriffs. Solche intakten Ökosysteme gibt es nicht mehr. Deshalb ist es eine solche Qual, sie in all ihrer Pracht auf dem Bildschirm zu sehen. Es ist, als wären es Bilder von einem anderen Planeten, nicht ihres eigenen kargen, unfruchtbaren Erdballs.
    Sie weint. Sie schaltet das Terminal aus, und für einen Augenblick ist alles um sie herum pechschwarz. Nur hoch oben am Himmelsgewölbe stechen Tausende von fernen Sonnen ihre winzigen Löcher in die Nacht. Sie schaut auf zum breiten Sternengürtel der Milchstraße. Der Himmel ist voller Sonnen, wie ihre eigene eine ist. Sie sind nur so weit weg, dass sie Nova nichts angehen, und sie bringen ihr auch keinen Trost.
    Vielleicht gibt es nicht nur auf ihrem eigenen Planeten intelligentes Leben. Und wenn eines Tages keine Menschen mehr auf der Erde leben? Werden dann alle Sterne und Planeten im Weltraum schweben, ohne dass irgendjemand von ihnen weiß?
    Sie reißt sich zusammen und ermahnt sich, nicht zu weinen. Sie gönnt denen, die dafür verantwortlich sind, was mit ihrem Planeten geschieht, nicht, dass sie weint oder traurig ist.

DAS WELTERBE
     
    Nora ging die Online-Ausgaben einiger Zeitungen durch, um mehr über das Geiseldrama zu erfahren. Aber es gab keine neuen Nachrichten vom Horn von Afrika. Danach sah sie sich eine kurze Nachrichtensendung aus dem Fernsehen an. Sie war am frühen Morgen ausgestrahlt worden, aber es war kein Problem, sie aus dem Netz herunterzuladen. Nora kannte sich mit dem Smartphone schon gut aus. Nach den Nachrichten wechselte sie zum Norwegischen Rundfunk und dem Podcast eines Vortrags, den sie einige Tage zuvor im Radio gehört hatte. Eine Männerstimme sagte:
     
»Als moderne Menschen sind wir weitgehend von unseren kulturhistorischen Erwartungen geprägt, von der Zivilisation, die uns hervorgebracht hat. Wir behaupten, ein kulturelles Erbe zu verwalten, aber wir werden auch von der biologischen Geschichte unseres Planeten geformt. Wir verwalten auch ein genetisches Erbe.
Es hat Milliarden von Jahren gedauert, uns hervorzubringen. Einige Jahrmilliarden – so lange dauert es wirklich, einen Menschen zu erschaffen. Aber werden wir dieses dritte Jahrtausend überleben?
Was ist Zeit? Erst kommt der Horizont des Individuums, dann derjenige der Familie, der Kultur und der Schriftkultur, doch danach kommt das, was wir geologische Zeit nennen. Wir stammen von Vierfüßlern ab, die vor an die 350 Millionen Jahren aus dem Meer gekrochen sind. Im Grunde müssen wir uns auf einer kosmischen Zeitachse sehen: Wir leben in einem Universum, das

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