2084 - Noras Welt (German Edition)
sie schon lange nicht mehr gleich heraus.
DIE KARAWANE
Sie sitzt hoch oben auf dem Höcker eines Dromedars. Vor ihrem schreiten vier weitere Dromedare. Sie sind mit den Habseligkeiten der Reisenden beladen, Teppichen und anderen Waren, die auf den großen Märkten in Molde und Kristiansund verkauft werden sollen. Vieles davon ist von Hand gefertigt. In kleinen Taschen, die an den Seiten der stolzen Tiere hängen, sind Perlenketten und Beutel mit Gewürzen verstaut.
Nur Nova darf auf einem Dromedar reiten, und der arabische Junge führt das Tier. Eine der Frauen hat ihr einen roten Umhang geschenkt und über die Schultern gelegt; hoch über der Landschaft thronend, kommt sie sich wie eine arabische Prinzessin vor. Der Junge blickt zu ihr auf und lächelt.
»Sheikha«, sagt er.
Sie darf die Karawane ein Stück begleiten, bis nach Lo weiter westlich im Tal, von dort soll sie den E- Bus zurück nehmen. Sie ist nur zum Spaß mitgekommen. Weil sie den arabischen Jungen mag und sie beide es nicht schön finden, dass sie sich trennen müssen.
Die Karawane besteht aus etwa dreißig Menschen jeden Alters. Vor den Dromedaren geht ein Mann, der rhythmisch auf eine Trommel schlägt, davor tanzt ein Mädchen von elf, zwölf Jahren und spielt auf einer Bambusflöte.
Hinter der Brücke über den Fluss beginnt der lange Aufstieg zum Gebirgspass. Es regnet nicht mehr, aber alles ist nass, und noch immer tropft es von den Bäumen.
Der Fluss schäumt durchs Tal, das Wasser steht bedrohlich hoch. Hoffentlich dauert es ein paar Tage, bevor es wieder mit dem Regen losgeht.
Noch nie war es in diesem Teil der Welt nässer, wärmer und grüner, und noch nie war das Wasser der Flüsse brauner. Innerhalb von vierzig Jahren hat sich die Bevölkerung im Land verfünffacht, und das nicht, weil mehr Kinder geboren wurden, sondern weil immer neue Wellen von Klimaflüchtlingen ins Land strömen. Nur ganz im Norden bringt der dramatische Klimawandel gewisse Vorteile, und in vielen nördlichen Ländern ist dazu noch immer genug Platz.
Sie hat dem arabischen Jungen gerade von den sogenannten Klimaskeptikern am Beginn des Jahrhunderts erzählt, den Männern mittleren Alters, die im Norden lebten und bis zum bitteren Ende dabei blieben, dass es gar keine globale Erwärmung gebe. Und falls doch, sei sie nicht vom Menschen verursacht. Und selbst wenn sie vom Menschen verursacht sei, habe sie für die Menschen hoch im Norden doch nur Vorteile …
»Das nenne ich, sich nach allen Seiten absichern«, hat der Junge geantwortet. »Man sagt, der Strauß in Afrika und im Nahen Osten hatte manchmal solche Angst vor dem, was er sah, dass er den Kopf in den Sand steckte. Die Taktik half nur leider nicht immer, und inzwischen ist er ausgerottet.«
Nova sitzt hoch oben auf dem Dromedar und lacht. Sie muss fast schreien, damit er sie unten hört.
»Es gab bei uns Leute, die meinten, man müsse sich keine Sorgen machen, nur weil das Eis in der Arktis schmolz – da oben laufe doch sowieso kaum jemand Ski oder Schlittschuh. Zudem lagen unter dem Eis große Ölvorkommen, und Norwegens Recht auf Ölförderung erstreckte sich fast bis zum Nordpol. Was sollte außerdem das ganze Gerede, man müsse die Eisbären am Leben erhalten? Es reichte ja wohl, die Pandabären zu retten. Die nordischen Klimastrauße begriffen nicht, dass das schmelzende Eis eine Vorwarnung war, und dass sich bald der ganze Erdball erwärmen würde. – Und jetzt sitze ich auf dem Höcker … eines Dromedars!«
Als sie in Lo eintreffen, hilft ihr der arabische Junge absteigen. Die Karawane wird gleich weiterziehen, und der E- Bus kann jeden Augenblick kommen. An der Busstation gibt es Computerterminals, dort tauschen sie noch ihre Skype-Adressen aus und versprechen einander, dass sie sich wiedersehen werden. Auf seinem Bildschirm zeigt der Junge Nova, wie es in dem kleinen Emirat aussieht, aus dem er stammt. Aber sie kann gar nichts erkennen. Sie sieht überall nur Sand.
»Ist da nur Sand?«, fragt sie. »Gibt’s bei euch keine Städte mehr?«
»Doch, sicher, die Städte gibt es noch – sie liegen nur unterm Sand.«
Er sucht und findet schließlich ein einsames kleines Gebäude, das wie ein großes spitzes Bauklötzchen ein oder zwei Meter aus dem Wüstensand ragt.
Er sagt: »Das ist ein Minarett.«
Dann kommt der Bus, und bevor Nova einsteigt, klatschen sie einander mit offenen Handflächen ab.
DIE ROTEN LISTEN
Nora schaute auf ihr Smartphone und überlegte, wo sie die
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