21 - Stille Wasser
Haar.
»Wo bist du?«, fragte er in die sich wie endlos vor ihm erstreckende Weite. »Wo bist du?« Seine Worte waren leise, doch in seiner Stimme schwang Wut.
Keine Antwort, nur der heisere Schrei einer Möwe, die einen Moment lang direkt über ihm stand, bevor sie weiter aufs Meer hinausstürzte, wo sie allmählich im Sonnenuntergang verschwand.
Der Mann schenkte ihr kaum Beachtung, sah nur einmal kurz auf und wandte seine Aufmerksamkeit sogleich wieder der glitzernden Fläche des Ozeans zu. Schließlich setzte er sich schulterzuckend in Bewegung und wanderte weiter den Strand entlang, die suchenden Blicke auf den Sand gerichtet, von dem die Flut alle Spuren der frühmorgendlichen Menschenansammlung hinweggespült hatte. Irgendwann würde etwas sein Augenmerk auf sich ziehen und er würde sich hinabbeugen, um es genauer zu untersuchen. Oder er würde zu einer der hier und da emporragenden Felsgruppen gehen und die Hände tastend über Vorsprünge und Kanten gleiten lassen.
Sein ganzes Erscheinungsbild war das eines Mannes, der eine Mission zu erfüllen hatte. Eines Mannes, der beharrlich nach etwas zu suchen schien... ob er es nun finden mochte oder nicht.
Ein schriller Signalton zerriss die Stille. Der Mann blieb stehen und zückte sein Handy.
»Hier Dr. Lee«, blaffte er hinein. »Was gibt’s?«
Die Antwort schien ihm nicht zu gefallen.
»Ihr Idioten! Und warum erfahre ich das jetzt erst?« Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen aufwallenden Zorn zu unterdrücken, während er sich die hastig gestammelten Entschuldigungen seines Mitarbeiters anhörte. »Vergessen Sie’s. Ich will die Namen aller, die auch nur in irgendeiner Weise an diesem Einsatz beteiligt waren.«
Er sah sich noch einmal prüfend um und runzelte die Stirn. Es war bereits zu dunkel, um die Suche fortzusetzen.
»Nein. Der Bericht aus Los Angeles war diesbezüglich eindeutig. Zumindest eines von ihnen hat etwas von dem Rohöl abbekommen. Was bedeutet, dass es, solange es ihm nicht gelingt, zu seinem Rudel zurückzukehren, völlig hilflos ist. Ich habe nicht die Absicht, es entkommen zu lassen. Nicht dieses Mal.«
Er unterbrach die Verbindung und ließ das Handy wieder in seiner Tasche verschwinden. Sein Blick wanderte zum Horizont, dorthin, wo das Blaugrau des Meeres auf das gräuliche Blau des Himmels traf und beide allmählich zu einem trüben Dunkel verschmolzen.
»Nicht noch einmal.«
4
»Okay, jetzt reicht’s. Schluss. Ende. Feierabend. Das nächste Mal soll Giles gefälligst zusehen, wie er die Klamotten wieder sauber kriegt.«
Joyce blickte überrascht auf, als ihre Tochter wutschnaubend zur Vordertür hereinstürmte. Das Haar pappte ihr völlig verkleistert am Kopf und vom Hals an abwärts war sie annähernd flächendeckend mit einer schleimigen, nicht definierbaren bläulichen Glibbermasse überzogen.
»Ach du meine Güte!« Joyce versuchte, einen aufkommenden Lachanfall niederzukämpfen. Sie sollte wahrscheinlich beunruhigt sein, doch die Tatsache, dass Buffy offensichtlich unversehrt war... Das Lachen platzte lauthals aus ihr heraus. »Mein Gott! Mein lieber Gott!«
»Vielen Dank, Mom.«
Joyce zwang sich dazu, Haltung zu bewahren. »Darf man fragen, was das ist, dieses... Zeug?«
»Rowdy.«
»Rowdy?«
»Rowdy«, bestätigte Buffy. »Groß, blau, hässlich.«
»Explodiert?«
»Explodiert. Giles war der Meinung, ich sollte ihn pfählen, also hab ich ihn gepfählt und...« Mit einer ausholenden Geste verwies sie auf das ebenso unübersehbare wie unappetitliche Ergebnis der Aktion.
Als Joyce den über die Maßen empörten Gesichtsausdruck ihrer Tochter sah, brach sie erneut in Gelächter aus.
»Mom!«, rief Buffy sie verärgert zur Räson.
»Am besten gehst du gleich nach oben und steckst die Sachen in die Waschmaschine. Und nimm ein heißes Bad. Danach wirst du dich bestimmt besser fühlen.«
Ein Frösteln durchfuhr Buffy, ein deutliches, sekundenlanges Zittern, das Joyces Gelächter augenblicklich zum Verstummen brachte. »Ich denke, ich werde auf das Bad verzichten. Hey, ich bin in Ordnung, ehrlich. Ich bin einfach nur hundemüde, das ist alles. Es war ein langer Tag. Nacht, Mom.«
»Nacht, mein Schatz«, erwiderte Joyce und unterdrückte ein Seufzen. Einige Leute hatten Töchter, die verrückt nach Jungs waren, oder nach Rockmusik, oder nach schwarzen Messen. Sie hatte eine Tochter, die morgens um eins nach Hause kam und von Kopf bis Fuß mit den klebrigen Überresten eines explodierten Rowdys bedeckt
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