212 - Das Skelett (German Edition)
wieder in den braunen Umschlag und diesen in ihre große Handtasche.
Sie verabschiedete sich von ihren Kollegen und verließ das Verlagshaus im schönen Bogenhausen immer noch leicht zitternd. Zügig fuhr sie mit ihrem Fahrrad durch Münchens Straßen. Das Wetter war schön, trocken und nicht kalt, morgens hatte es noch genieselt.
So konnte das Regencape in ihrer Tasche bleiben. Ihre kleine Zweizimmerwohnung, in Johanneskirchen, in der Cosimastraße, lag nur wenige Fahrminuten vom Verlag entfernt.
Louise wollte eigentlich noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen, aber ihr Drang, „es“ sofort weiterzulesen, war unbändig, also ließ sie es. Irgendetwas Essbares würde ihr Kühlschrank schon noch hergeben. Kurz nach siebzehn Uhr erreichte Louise ihre Festung. Eilig, ohne Lust aß sie eine Kleinigkeit. Ihr Feierabendtee musste sein, dann machte sie es sich auf ihrem kuscheligen Sofa bequem. Louise stellte kurz den Fernseher an, weil sie sehen wollte, ob über das Ableben des Arztes schon in den Nachrichten berichtet wurde. Sein Freitod würde sicherlich wie eine Bombe einschlagen. Er hatte gestern den Maxibrief abgeschickt, wenn er seine Ankündigung wahr gemacht hatte, müssten sich die Meldungen doch schon überschlagen.
Aber es wurde nichts vermeldet, wahrs cheinlich wurde seine Leiche noch nicht gefunden. Gleichgültig, Louise verdrängte ihre Gedanken daran. Vorsorglich zog sie noch den Stecker aus dem Festnetztelefon und stellte das Handy aus. Nicht einmal von ihrer Tochter oder ihrer besten Freundin wollte sie gestört werden.
Wie unter Zwang versank Louise in das Manuskript und begann nochmals auf der ersten Seite.
Nach einiger Zeit kamen sie dann wieder, die kleinen Schläge in die Magengrube.
Kapitel 1
Mein Name ist Dr. Henryk Dachsler, ich wurde nur einundvierzig Jahre alt. Ich war eine Koryphäe meines Faches, das war zumindest immer unisono die Meinung meiner früheren Kollegen und auch aller Patienten. Eher ein besonderer Handwerker meiner Zunft. Ja, war, denn wenn Sie diese Zeilen lesen, werde ich nicht mehr am Leben sein. Ich war ein plastischer Chirurg, der vielen Menschen mit Missbildungen oder auch schlimmen Unfallfolgen geholfen hat, ein würdiges Leben zu führen. Nach meiner Zeit als angestellter Unfallchirurg in einem Hamburger Krankenhaus begann meine unglaubliche Karriere als selbstständiger Schönheitschirurg. Das liegt nun acht Jahre zurück. Jedes einzelne Körperteil, welches meine grazilen Hände je operierten, heilten, formten, verschönerten - könnte ich noch heute aufzählen. Mein Können basierte auf einer begnadeten Begabung und war vielleicht auch ein Spiegelbild meiner Herkunft und Erziehung. Meine Familienchronik schmücken reichliche Fachärzte, das prägt und mag wohl auch genetischen Einfluss auf meine Person genommen haben.
Mein e elitäre Kundschaft kam zu mir, um ihrem Ideal näherzukommen. Ich vermochte auch weniger attraktiv geborene Frauen und Männer in märchenhaft schöne Prinzessinnen und Prinzen zu verwandeln. Viele nationale und auch internationale Kunden haben sich mir und meiner exklusiven Klinik für plastische und ästhetische Chirurgie in der Hamburger Elbchaussee förmlich aufgedrängt. Immer meinem hippokratischen Eid folgend, habe ich mein Bestes gegeben, und ich bekam das, wonach ich letztlich immer gieriger wurde. Geld, viel Geld!
Mein Aufstieg war kometenhaft, ich schwamm im schnöden Mammon und bekam höchste soziale Anerkennung.
Ich kam meinem erhofften, erdachten Paradies ziemlich nah e.
Und dann kam alles anders, mein ausufernder Größenwahn bekam einen gewaltigen Riss. Mein „perfektes“ Leben schien völlig aus dem Ruder zu laufen.
Das durf te einfach nicht sein. Dafür habe ich alles getan und würde es wohl wieder tun.
Nein , das würde ich definitiv nicht!
Wie jeder andere auch, hatte ich die Wahl, die richtige Entscheidung zu treffen.
Ich erlag den Verlockungen eines Geistes, sicherlich kein Mensch, eher jemand aus einer Parallelwelt.
Ich wurde manipuliert und genötigt, schlimme Dinge zu tun. Beängstigend, dass ein Wesen über jemand anderen soviel Macht erlangen kann. Ich siechte schleichend dahin, wollte dagegen ankämpfen, aber die innere Stärke blieb mir bis zuletzt versagt. Bis ich begriff, dass alles nur eine große Illusion meiner irregeleiteten Gedanken war, befand ich mich in einer unheimlichen Abhängigkeit. Wohl an diesem Tag unserer Begegnung habe ich die menschliche Ebene verlassen und bin zu einem
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