215 - Die Macht des Sehers
schlief es erschöpft ein. Yann hielt Keetjes warmen Körper fest. Er war zutiefst gerührt, so gerührt, dass auch er leise zu weinen begann. Irgendwann übermannte auch ihn der Schlaf.
Eine Erschütterung und ein Knall weckten beide. Sofort waren sie wieder da, die Kopfschmerzen, und Yann hielt sich die Ohren zu.
»Was war das?« Keetje lauschte ängstlich und aufmerksam.
»Eine Explosion«, stöhnte Yann.
»Wir schauen nach.« Keetje stand auf und eilte zur Kajütentür. Dort drehte sie sich nach ihrem Ersatzvater um.
»Komm mit.«
»Ich kann nicht«, krächzte der Grauhaarige. »Die Sonne ist sicher schon aufgegangen. Ihr Licht würde mir wehtun.«
»Allein habe ich aber Angst.« Bettelnd sah sie den Meister an. Doch der schüttelte mürrisch den Kopf.
Keetje huschte in den Gang hinaus. Yann hörte eine Tür quietschen. Das Mädchen kramte in seiner eigenen Kajüte herum. Bald kam es zurück. Es ging vor Yann in die Hocke und reichte ihm eine Schutzbrille. »Die habe ich vor ein paar Tagen von einem Kunden bekommen«, sagte es. »Von dem Gelben mit dem Gallenstein. Ich habe die Gläser gefärbt, schau mal.«
Verblüfft nahm Yann dem Mädchen die Schutzbrille ab. Er hielt sie vor sein Auge. Die Gläser waren mit einem dunklen Ockergelb gefärbt. Der Seher richtete seinen Blick auf die fast gänzlich heruntergebrannte Kerze. Er nahm einen kaum sichtbaren matten Fleck wahr. »Womit hast du sie getönt?«
»Mit einer Farbe, die ich aus den Samen der Baobabfrüchte gewonnen habe.« Keetje fasste seine Hand und zog ihn hoch.
»Komm schon.«
Yann setzte die Schutzbrille auf und folgte ihr aus der Kajüte hinauf zum Außendeck. Er ging auf Zehenspitzen, denn die geringste Erschütterung rief stechenden Schmerz in seinem Kopf hervor. Breitbeinig stand Keetje schon auf dem Deck und spähte zum Bug, als er sich erst durch die Luke nach draußen bückte. Ihr Mund stand offen, irgendetwas verschlug ihr die Sprache.
Yann Haggard richtete sich neben ihr auf und blickte in die gleiche Richtung wie sie. Die Morgensonne stand knapp über dem Meereshorizont. Durch die Brille wirkte ihr Licht stark gedämpft und blendete ihn nicht. Etwa dreihundert Schritte entfernt stand eine Rauchsäule über einer Feuersbrunst.
Menschen liefen aufgeregt um das Feuer herum. »Was, beim Schaitan, ist dort geschehen?«, flüsterte Yann.
»Sie haben Yessus in die Luft gejagt!«
»Was sagst du da…?« Jetzt verschlug es dem Seher die Sprache. »Yessus…?«
»Er hatte sein Behandlungszelt dort aufgeschlagen, wo es jetzt lodert und dampft. Wie es aussieht, haben sie es in die Luft gesprengt.«
»Wer?« Fassungslos beobachtete Yann, wie die Menschen rund um den Explosionsherd aufeinander einschlugen.
»Die verdammten Weiber wahrscheinlich.« Keetje spuckte aus. »Die Kerle würden kaum den Heiler ihres bescheuerten Kriegshäuptlings töten. Haben ihn ja gerade erst unter Vertrag genommen.«
Seite an Seite gingen sie zum Bug. Zwei Lager standen dort links und rechts des brennenden Zeltes. Bei den Lagern erkannte Yann Motorwagen und Efrantenvögel. Und dazwischen, rund um das Feuer und die Rauchsäule, schlugen kriegerische Männer und Frauen mit Keulen, Schwertern und Äxten aufeinander ein.
»Bei allen guten Geistern des Ozeans – warum tun sie das?«, flüsterte Yann. Für den Moment hatte er seine Kopfschmerzen fast vergessen.
»Schöne Schlächterei.« Keetje schüttelte verächtlich den Kopf und spuckte wieder aus. »Ich hab nur eine Erklärung dafür.« Sie war ein kluges Kind und hatte eins und ein längst zusammengezählt. »Ich glaube, du kannst dich freuen, Meister – deine Kopfschmerzen sind so gut wie erledigt.« Sie deutete auf das Feuer und die Kämpfenden. »Diese Schwachköpfe da haben ein starkes Schmerzmittel dagegen aufgetrieben. – Oder sagen wir lieber: zwei starke Schmerzmittel. Und nun schlagen sie sich darum, wer es dir bringen darf.«
Damit lag Keetje nur knapp daneben.
***
Noch vor dem Frühstück klopfte es an Matts Tür. Der Mann aus der Vergangenheit rollte sich von der Matratze und öffnete.
Tala stand vor der Tür, sie schien aufgeregt zu sein. »Der Kaiser lässt Sie rufen, Matt. Er ist sehr böse auf Sie.« Matt zog sich an und folgte der kaiserlichen Leibgardistin in den Speisesaal. Unterwegs erfuhr er den Grund für de Roziers Verärgerung. Tala und de Fouché hatten sofort nach der kaiserlichen Morgentoilette mit ihrem Monarchen über die Gefahr gesprochen, in der er schwebte. Und nun war
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