215 - Die Macht des Sehers
holte de Rozier die Strickleiter aus einem Wandschrank. Sie befestigten sie an Deckenhaken und warfen sie durch Luke.
Sich auseinander rollend fiel sie nach unten.
Matt packte die Sprossen und machte Anstalten, aus der Gondel zu klettern. »Ich hole ihn hoch!«
»Aber beeile dich!« De Rozier stand am Fenster und sondierte die Lage. »Sie bekommen Verstärkung!«
Matt kletterte ein Stück aus der Roziere und verschaffte sich einen Überblick: Der Wagen stand noch immer allein auf dem Uferweg. Yann Haggard starrte zu ihm herauf. Aus der kaum einen Kilometer entfernten Festung jagten etwa fünfzig weitere Panzerreiter auf Elefantenvögeln heran.
»Ich könnte es schaffen!«, brüllte der Mann aus dem 21.
Jahrhundert. »Wirf noch ein paar Glasbomben ab, das wird sie einschüchtern und aufhalten!« Er wartete de Roziers Antwort nicht ab, sondern machte sich auf den Weg nach unten.
Als er auf halber Höhe der Strickleiter angelangt war, schien der Seher fünfundzwanzig Meter unter ihm endlich zu begreifen: Er packte die Zügel des Vogelgespanns und trieb die Tiere an. Der Wagen rollte los. Die beiden darunter in Deckung liegenden Krieger sprangen auf. Nur zögernd nahmen sie die Verfolgung auf.
De Rozier jedoch reagierte sofort – und goldrichtig: Er beschleunigte das Luftschiff ein wenig, sodass es immer knapp vor dem Wagen flog, und er warf zwei Brandsätze ab. Die explodierten knapp zwanzig Meter hinter dem Wagen. Die beiden Verfolger warfen sich zu Boden und gaben auf.
Matt Drax kletterte weiter nach unten. Bald hing er an der Strickleiter direkt über der Ladefläche des Wagens. »Ich bin’s: Maddrax!«, brüllte er. »Ich bring dich an Bord, Yann! Steh auf, komm her, wag es!«
Der Seher ließ die Zügel los, sank rücklings über den Kutschbock auf die Ladefläche und kroch auf Händen und Knien zu Matt Drax und der Strickleiter. Seine Arme schienen aus Blei zu sein, denn wie in Trance tastete er sicher zehn Mal vergeblich nach dem über ihm schwingenden Ende der Strickleiter. Erst beim zwölften oder fünfzehnten Versuch gelang es ihm endlich, eine Sprosse zu packen. Er zog sich hoch und kletterte an Matt vorbei nach oben.
Der Mann aus dem 21. Jahrhundert sah ihm ins Gesicht: Das war bleich und verzerrt. Auch stieß Yann Haggard Sätze aus, die Matt Drax in keinen sinnvollen Zusammenhang bringen konnte: »Den Eisenkriegern fliegen Feuerblitze um die Helme! In allen Lüften hallt es wie Gewitter!« Der Seher rief wie im Fieber. »Vögel rennen, Schiffe fliegen, Eisen knirscht und Flaschen brennen…!«
Matt kannte das, er kümmerte sich nicht darum, sondern trieb den Seher an. »Vorwärts, Yann, los! Klettere nach oben!«
Er blickte hinab: Aus Büschen und unter Baumkronen hervor trieben gepanzerte Reiter ihre Elefantenvögel Richtung Wagen. Die ersten Eisenmänner legten schon wieder ihre Armbrüste an. Auch die beiden Verfolger waren aufgestanden und rannten zum Wagen. Der drohende Verlust ihres Gefangenen schien allen Kämpfern des Großen Kriegshäuptlings Beine zu machen.
Nur dreihundert Meter trennte das Ende der Strickleiter noch von der Truppe, die als Verstärkung von der Festung heran galoppierte. Doch die Gepanzerten Reiter würden zu spät kommen – Matt sah es mit grenzenloser Erleichterung.
Drei oder vier Glasbomben rauschten an ihm und Yann vorbei und explodierten unter ihnen am Boden. Sofort flüchteten die Krieger wieder in ihre Deckung, und der Ansturm der kleinen Reiterarmee kam ins Stocken. Das Luftschiff beschleunigte und stieg in immer größere Flughöhen hinauf.
Es wurde kühler, und Wagen, Reiter, Fluss und Festung erinnerten Matt Drax bald an eine Spielzeuglandschaft.
»Weiter, Yann, immer weiter – gleich haben wir es geschafft!«
Selten hatte Matt so viel am Stück geredet wie in diesen Minuten auf der Strickleiter. Doch der Seher drohte mehrmals aufzugeben, und Matt blieb gar nichts anderes übrig, als ihm immer wieder Mut zuzusprechen.
Endlich erreichten sie die Bodenluke des Luftschiffs. De Rozier half ihnen an Bord. Als Matt Drax neben Yann Haggard völlig außer Atem gegen die Wand neben der Brennzelle lehnte, knallte der Kaiser den Deckel zu und rief: »Das müssen wir feiern! Ich hole den Brabeelenwein und die Pralinen!«
Yann Haggard verzog das Gesicht vor Schmerzen und barg seinen Schädel zwischen den Knien. »Nicht so laut! Und beim Kukumotz – bloß keinen Wein…« Er stöhnte. »Habt ihr nicht so was wie eine Bordapotheke? Ich brauche dringend ein
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