217 - Der Unsichtbare
im Licht. Auf seiner Schulter zeigte sich eine tiefe Wunde.
Oree ging näher heran und verbarg sich hinter dem Stamm einer Akazie. Geschickt kletterte er hinauf, um besser sehen zu können.
Was war mit dem anderen Mann? Oree schauderte, als er den leeren Blick des toten Auges sah. Dafür schien das andere Auge von innen heraus zu brennen. Auch fehlten dem Fremden ein Ohr und ein paar Finger. Er war hässlich und Furcht einflößend. Wie ein Beschwörer der Toten. Was trieb die beiden in diese Gegend?
»Du musst es tun, mon ami.« Der Weiße zeigte auf das winzige Feuer mit dem nassen Holz. »Sobald es heiß genug ist, musst du mir die Wunde ausbrennen.«
Oree schüttelte den Kopf. Der hellhäutige Mann schien Fieber zu haben. Weelas hinterließen oft leichte Vergiftungen, und die tiefe Wunde in der Schulter sah sehr charakteristisch aus. Wäre der Mann schwarz gewesen, hätte Oree ihm Hilfe angeboten. Nachdenklich betrachtete er das sonderbare Männerpaar. Der Weiße wirkte auf ihn so vertraut. Diese Nase. Er sah genauso aus wie das Bild, das Häuptling Waluk in seinem »Fort« hatte. »Fort« – so schimpfte Waluk seine stinkende Hütte.
Oree kämpfte seine Verachtung nieder und konzentrierte seine Gedanken wieder auf die Männer vor sich. Dieser dürre weiße Mann konnte doch nicht der Kaiser des Ostens sein. Was sollte einen Herrscher bewegen, sich mit nur einer Begleitung auf die Reise in feindliches Gebiet zu begeben? Er musste sich irren; oder vielleicht sahen die Weißen alle gleich aus.
Oree bemerkte in den gegenüberliegenden Akazien zwei seiner Krieger, die die Männer auf dem Boden ebenfalls beobachteten. Er gab ihnen mit der Hand das Zeichen zum Angriff. Wer auch immer diese Männer waren – er würde es bald erfahren.
***
Jean-François Pilatre de Rozier sah den vier Männern mit fieberndem Blick entgegen. Sie waren plötzlich aufgetaucht und hatten ihn und Yann umzingelt, ehe er reagieren konnte. In ihren Händen trugen sie Armbrüste, die denen aus seinem Reich nicht unähnlich waren. Vielleicht waren sie sogar gestohlen. Einer von ihnen hatte sich von hinten angeschlichen und die Steinschlossgewehre an sich genommen. De Rozier verfluchte sich für seinen Leichtsinn. Wenn sein Vertrauter Wabo hier gewesen wäre, wäre das nicht geschehen. Aber Wabo war wie so viele ein Opfer der großen Grube und der Gruh geworden.
Wer waren die Fremden? Waren sie Wilde? Oder Anhänger dieses überheblichen Shahruuk, dessen Delegation vor Jahren um Handelsbeziehungen ersucht hatte, der aber solch dreiste Forderungen stellte, dass er die Abordnung davongejagt hatte? Ihr Anführer war hellhäutiger als die anderen. Auch waren seine schwarzen Haare glatt und lang, nicht lockig und kurz. Sie alle trugen Lendenschurze aus festem Tuch, was auf Wilde hindeutete. Doch die Axt an der Schulter des hellhäutigeren Mannes war ungewohnt kunstfertig. Außerdem trug er Schmuck aus sonderbarem Metall. Silbern blinkende Armringe, die sich um seine kräftigen Oberarme wanden.
Kaiser de Rozier stand trotz seiner Schmerzen und des starken Schwindels auf. Es war nicht ratsam, in Feindesland gleich seinen wahren Namen zu nennen.
»Wir sind im Auftrag des Kaisers Jean-François Pilatre de Rozier unterwegs. Mit wem haben wir die Ehre?« Es wäre einfacher gewesen, wenn die Welt aufhören würde, sich um ihn zu drehen. Er hatte viel Blut verloren, trotz des dicken Verbandes, den Yann Haggard um seine Schulter gelegt hatte.
Der Anführer starrte ihn überrascht an. »Ich… ich bin Oree, erster Krieger des Dorfes Aruun.«
Das Englisch der Männer war annehmbar. De Rozier schöpfte Hoffnung. Mit der Aussicht auf eine Belohnung würde er diese Männer schon dazu bringen, ihm zu helfen.
»Wir wurden verletzt, wie Ihr seht, Krieger Oree. Helft uns und es soll nicht Euer Nachteil sein. Der Kaiser wird euch dafür belohnen.«
»Wir werden euch in unser Dorf bringen«, bestimmte Oree. »Dort soll unser Häuptling entscheiden.« Er nickte ihnen zu. »Ihr seht beide nicht gut aus. Im Dorf wird man euch versorgen.« Trotz der gefälligen Worte war der Blick des Kriegers grimmig. De Rozier spürte Feindseligkeit.
Der Kaiser wollte noch etwas sagen, doch das Schwindelgefühl wurde mit einem Mal so stark, dass er fast gestürzt wäre. Er sah in das schwankende Gesicht von Yann. Der Energieseher hatte mit besorgtem Blick zugehört, nun wandte er sich selbst an den Krieger. »Wird es nötig sein, die Wunde auszubrennen? Oder habt ihr im Dorf
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