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219 - Kaiserdämmerung

219 - Kaiserdämmerung

Titel: 219 - Kaiserdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia Zorn
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richtete sich auf. Minutenlang starrte er wie gebannt auf die Felsspalte, die sich zehn Schritte vor seinen Fußklauen auftat.
    Der Zilverbak hörte nicht mehr die Vögel, die den Morgen begrüßten. Roch nicht mehr das feuchte Moos und die Raubkatze im Dickicht. Spürte nicht den Regen, der über seinen dunklen Pelz rieselte. All seine Sinne waren gefangen von dem hölzernen Konstrukt, das über der Schlucht hing. Böser Zarr!, dachte er. Böser Zarr!
    ***
    Einige Stunden später
    In dichten Wolken verhüllte der Nebel die Baumkronen. Er tropfte von Ästen und Laub, wie der Saft aus einer überreifen Papaya. Als warmer Regen ergoss er sich auf die seltsame Karawane, die sich zwischen den Bäumen nach Norden bewegte: angeführt von einem Mann, und in größerem Abstand hinter ihm eine Frau mit einem Kamshaa. Sie kamen nur langsam vorwärts.
    Das Reittier wollte offensichtlich nicht weiter gehen. Die Frau zerrte an dem Reitgeschirr und stemmte ihre nackten Füße in die nasse Erde. Stulpen aus Leopardenfell verhüllten ihre Waden bis zu den Fußknöcheln hinunter. Ihre langen Beine ließen die schlanke Frau größer erscheinen, als sie tatsächlich war. Oberarme und Handgelenke waren umwickelt mit Bändern aus Leder und Pflanzenfasern, in denen Blasrohr und Dolch untergebracht waren. Um ihren schlanken Hals klapperten Ketten aus Tierzähnen und Muscheln.
    Das Kamshaa gab ein heiseres Röhren von sich. Vorsichtig zog die Frau den Kopf des Tieres nahe an ihr fein geschnittenes Gesicht: In ihren fast schwarzen Augen lag ein Ausdruck von Gelassenheit, wie man ihn oft bei alten Menschen beobachten kann. Aber die schwarze Schönheit war noch keine dreißig Winter alt. Sie hieß Lay und gehörte zum Stamm der Zilverbaks im fernen Taraganda.
    »Komm«, flüsterte Lay mit rauer Stimme dem Tier ins Ohr. »Brauchst keine Angst zu haben. Mein Liebster schlägt die Feuerstachel weg. Komm!«
    Mit mein Liebster meinte sie den Mann, der etliche Schritte vor ihr mit seinem Schwert herunterhängendes Geäst rodete: ein weißhäutiger Hüne mit breiten Schultern und kantigem Gesicht. Jeder Zentimeter seines Körpers schien aus prallen Muskeln zu bestehen. Er trug ein ärmelloses Gewand aus Leder und Fell und dunkle Stiefel, deren Schaft die Knie bedeckten.
    Der Albino mit den roten Augen und den schlohweißen Haaren ähnelte den Barbarenkriegern im Nordwesten Eurees. Und genau in diesem Teil der Erde war er geboren worden: am 13. Januar 2465 in den Wäldern südlich von Coellen. Als Sohn von Sir Leonard Gabriel, dem ehemaligen Prime von Salisbury, und Canduly Reesa, einer von Wölfen aufgezogenen Barbarin aus den Pyrenäen. Rulfan wurde er genannt, nach dem Stammvater der Reesa-Sippe, der halb Lupa, halb Mensch gewesen sein sollte.
    Allerdings wuchs der Albino nicht in den Wäldern unter freiem Himmel auf, sondern im hoch technisierten Bunker der Community Salisbury in Britana. Und es war eine lange Geschichte, die ihn hierher, weit weg von der Heimat, in das ferne Afra gebracht hatte.
    Im Moment schlug Rulfan mit seinem Schwert rote Flechten von den unteren Ästen der Bäume. Es waren Schmarotzer mit daumendicken Dornen, die eine Handlänge über Rulfans Kopf an den Zweigen hingen. Ihn und seine Begleitung behinderten sie zwar nicht, wohl aber das Kamshaa, mit dem sie unterwegs waren. Vor wenigen Stunden hatten sich die langen Dornen durch das Fell ins Fleisch des Reittiers gebohrt. Laut blökend vor Schmerzen war es in die Knie gesunken. Es hatte ewig gedauert, seinen Körper von den peinigenden Stacheln zu befreien. Jetzt bockte das Tier vor jedem Schritt, den Lay ihm mit Engelsgeduld abrang.
    Rulfan fluchte. Zarr hatten sie den Ausflug in dieses unwegsame Dickicht zu verdanken. Unentwegt beharrte der Silberrücken aus Taraganda auf seine »Abkürzung durch Schlucht«. Inzwischen waren Tage vergangen und von der Schlucht keine Spur. Genauso wenig wie von dem pelzigen Griesgram, wie Rulfan Zarr insgeheim nannte. Er musste vor Sonnenaufgang ihren Unterschlupf in den Bäumen verlassen haben.
    Nichts Ungewöhnliches für den Zilverbak. Einmal blieb er sogar zwei Tage lang verschwunden. Er schien sich darauf zu verlassen, dass Lay seinen Spuren folgte. Und das tat sie. Sie, und auch Rulfan. Die Abdrücke der tellergroßen Fußklauen waren in der feuchten Erde nicht zu übersehen. Als ob das nicht genug wäre, hatte der Schwarzpelz in regelmäßigen Abständen seitlich des Pfades Breschen in den Dschungel geschlagen. Geköpfte

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