22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
Einkehr in mich selbst. Ich bin ein Teil von ihr und kann sie nicht schauen, ohne mit ihr auch mich zu betrachten. Gesellschaft anderer Leute würde mir da nur hinderlich sein. Durch den Wald will ich allein spazieren, außer ich bin gesellschaftlich gezwungen, noch jemand mitzunehmen. Plauderei entheiligt mir die Tat. Denn ein solcher Gang zum predigenden Wald ist für mich eine Tat, und zwar nicht bloß eine körperliche, sondern mehr noch eine seelische. Werde ich begleitet, so bringe ich fast nichts mit heim, als nur die Erinnerung an das, was gesprochen worden ist.
Ganz ebenso ist es mit dem Sonnenauf- und mit dem Sonnenuntergang. Jede Bemerkung, jede Interjektion, sei sie auch noch so begeistert, muß, falls ich sie anzuhören habe, die Erhabenheit und Heiligkeit des Augenblicks mindern. Ich habe menschliche Gesellschaft gern, wie ich überhaupt die ganze Menschheit herzlich liebe; aber die Natur will ich in ungestörter Einsamkeit auf mich wirken lassen, und meine schönsten und gewiß auch besten Lebensstunden sind die, in denen ich in stiller Nacht und ohne einen Plauderer neben mir dem ewig frommen und ewig treuen Sternenhimmel in seine leuchtend hellen Augen sehe. So auch heut, wo ich allein und von höflicher Rücksicht frei vor der Halle des ‚hohen Hauses‘ saß. Ich kenne ein Bild, ‚Die Genesende‘ unterzeichnet. Eine weibliche Gestalt sitzt bleichen Angesichts in hochgelegener, offener Laube, von welcher aus einer der herrlichsten Punkte des Rheintales zu überschauen ist. Soeben dem Tod entronnen, hat sie das Krankenzimmer mit dieser freien, vom Blumenduft umwehten Stelle vertauscht, um neues, sonniges Leben einzuatmen. Sie nimmt es mit einem stillen, milden, unendlich dankbaren Lächeln entgegen; aber die großen, ernsten Augen sind nicht hinunter auf die glitzernden Fluten des Stroms oder die grünenden Rebenhänge, sondern weit, weit hinaus in die grenzenlose Ferne gerichtet, die selbst den Horizont unter sich nur als trügerische Vorspiegelung des Menschenauges kennt. Es ist, als ob diese Augen, welche nur Unbegrenztes schauen, noch immer nach der unsichtbaren Pforte jener Geheimnisse suchten, deren Schlüssel in der verschwiegenen Erde des Friedhofes vergraben liegt. Die Seele, welche sich von dem Körper trennen wollte, hat die Verbindung mit ihm noch nicht vollständig wiederhergestellt. Sie zieht den Blick hinaus, dorthin, wohin sie heimwärts gehen wollte, dem Taucher gleich, der nach vollbrachtem Tagewerk sich von der schweren, unbehilflichen Rüstung trennt und sie am Strand liegen läßt, um, wonnig atmend, wieder frei zu sein. An dieses Bild dachte ich am heutigen Abend, was leicht erklärlich war. Auch ich stand im Genesen und fühlte jenen weichen, tief empfänglichen Ernst in mir, dem es ein Bedürfnis ist, über den Horizont der Endlichkeit hinauszuschreiten. Dort, jenseits dieser Grenze, gibt es dann ebenen Weg; die Zeit der Schlagbäume ist überstanden, und kein niederes Interesse kann den Blick von jenen Höhen lenken, in denen nicht einmal die Sterne mehr die Namen tragen, die ihnen von den Menschen gegeben worden sind. Sie wandeln groß und erhaben über uns, und wer ihnen mit dem Herzen, nicht mit dem Rohr folgt, dem offenbaren sie viel mehr, viel mehr, als man durch dieses Rohr über sie erfahren kann. Keine noch so kunstvoll gearbeitete teleskopische Linse wird jemals an Schärfe das Auge der Seele erreichen: Während ich mich bis fast Mitternacht im Freien befand, saß Schakara bei Halef. Der Peder war bei dem Ustad, in dessen Wohnung heut eine wichtige Beratung stattfand, welche nicht in der Halle abgehalten werden konnte, weil diese ja uns überlassen worden war. Der Scheik der Dschamikun kam grad, als ich mich wieder hinein nach meinem Lager bringen ließ. Er teilte mir mit, worüber verhandelt worden war.
„Wir haben über das beabsichtigte ‚Fest der fünfzig Jahre‘ gesprochen“, sagte er. Ein persisches Fest dieses Namens war mir nicht bekannt. Darum sah ich ihn fragend an.
„Hat dir noch niemand etwas hiervon gesagt?“ erkundigte er sich.
„Nein.“
„Auch Schakara nicht?“
„Nein.“
„Sie hätte gewiß sehr gern davon gesprochen, denn dieses Fest beschäftigt uns alle schon seit längerer Zeit; wahrscheinlich aber ist ihre Meinung gewesen, auch in diesem Punkt gehorsam sein zu müssen. Der Ustad hat nämlich befohlen, euch nicht mit fremden, also auch nicht mit unsern Angelegenheiten zu behelligen. Ihr mußtet unberührt, von jeder innern
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