22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
beides das gleiche ist?“
„Nein.“
„Weißt du, was Körper ist?“
„Auch nicht.“
Da ging ein so liebes, kluges Lächeln des Einverständnisses über sein Gesicht, und er sprach:
„Ich würde dir das Lob deiner Bescheidenheit nicht versagen, aber du hast es nicht verdient. Du erwartest, von mir zu hören, was du mir nicht sagen willst. Und weil dir die Wahrheit dessen, was du mir sagen könntest, als nicht ganz zweifellos erscheint, so ziehest du vor, diese Zweifel nicht an deine, sondern lieber an meine Worte legen zu können. Du sollst deinen Willen haben. Wer Schonung bietet, der darf wohl selbst auf sie rechnen.“
Wie das so klang! Eigentlich hatte ich gedacht, daß ich nur einen ungebildeten Mann vor mir hatte, zwar war er ein Scheich, aber das konnte er durch vielerlei Umstände geworden sein. Wenn seine geistige Persönlichkeit bedeutend höher stand, als man nach seiner Lebensstellung schließen durfte, so konnte das nur eine Folge seines langjährigen Verkehrs mit dem Ustad sein. Hatte ich aber dieses angenommen, so trat sogleich die weitere Frage an mich heran, in welcher Weise und auf welchem Weg wohl dieser letztere zu einer so hohen Entwicklung seiner Individualität gelangt sein könnte. Dieser mein Gedankengang wurde durch den Peder unterbrochen, welcher weitersprach: „Hast du Geist, Sihdi?“
„Ich hoffe es“, antwortete ich.
„Nein, hoffe es nicht! Du hast zwar dieses Phantom, aber eigentlich hat es dich: du bist sein Sklave! Hast du Seele?“
„Meinst du eine Seele oder Seele überhaupt?“
„Sei nicht der spitzfindige, gelehrte Europäer, sondern antworte mir. Hast du Seele?“
„Ja.“
„Nein, sondern auch sie hat dich; aber sie ist kein Phantom, sondern eine erhabene, göttliche Wahrheit, der wir unser Anrecht auf die Seligkeit verdanken. Das sagt ein halbwilder Asiat dem von der Weisheit dieser Welt erzogenen Abendländer. Ob letzterer es glauben wird, das ist wohl sehr die Frage. Der Osten hat den Westen schon so manches gelehrt, was entweder nicht geglaubt oder nicht verstanden worden ist. Und nun der Orient dieser vergeblichen Belehrung müd geworden ist, behauptet man, daß er alt und schwach geworden sei. Doch, ich wollte ja nicht vom Ilmi ahwali nefs (Psychologie), sondern nur als Hekim von der Krankheit unseres Hadschi Halef zu dir sprechen. Über die Seele magst du mit dem Ustad reden, der von ihr wohl noch mehr weiß, als was in seinen Büchern steht.“
„Bücher?“ fragte ich. „Er hat Bücher?“
Da schaute mich der Peder mit einem Blick an, der die Röte in die Wangen trieb, und antwortete: „Ob – er – Bücher – hat! Er besitzt sogar vier große, große Bibliotheken! Die erste besteht im Kitab el mukaddas (Bibel), die zweite ist sein Herz, in welchem tausend herrliche Suren stehen; die dritte umfaßt alles, was die Schöpfung seinem Auge lehrt, und die vierte wirst du sehen, wenn du so weit genesen bist, daß du die Treppe emporsteigen kannst, um ihn in seiner Wohnung aufzusuchen. Da wirst du viele, viele Bände finden, die in Sprachen geschrieben sind, von denen ich ein Wort weder lesen noch verstehen kann. Wenn ich ihn nach dem Inhalt frage, so antwortet er, daß die ganze Summe alles dessen, was geschrieben ist, nichts anderes als der Ausruf sei, den die Pilger ausstoßen, wenn sie nach langer, mühsamer Wanderung endlich Mekka liegen sehen: ‚Hier bin ich, o mein Gott!‘ Die noch viel längere und viel schwerere Reise durch diese Bände schließt ganz genau mit denselben Worten ab. Ich habe einen großen Teil meines Lebens da oben bei ihm und seinen Büchern gesessen, um seinen Worten zu lauschen und sie in mir nachklingen zu lassen. Daß ich meinen Stamm durch Kampf und Leid zum Frieden führte, habe ich ihm zu verdanken, und daß man mich als einen guten Hekim kennt, ist auch eines seiner Werke, für welche ihm die Liebe der Dschamikun zu danken hat. Grad die Krankheit, welche auch dich und deinen Halef ergriff, hat früher große und schwere Opfer von uns gefordert. Der Ustad aber hat ihre Macht gebrochen, indem er uns lehrte, wie sie zu behandeln sei. Ahnst du, warum sie so gefährlich sei, gefährlicher als viele, viele andere?“
„Sage es mir!“
„Du weißt es nicht, und eure Ärzte wissen es auch nicht.“
„Ich vermute, der langen Betäubung wegen, die sie mit sich bringt.“
„Du triffst das Richtige. Aber sage mir, was der Grund dieser Betäubung ist!“
„Die Seele zieht sich vom Körper zurück.“
„Ja.
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