22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
menschlichen Begriffsvermögen in Verbindung! Er war also Musikphilosoph! Dieser Gedanke wollte mich zum Lächeln bringen; ich unterdrückte es aber glücklicherweise. Der Ort, an dem ich mich befand, hatte mich schon öfters überzeugt, daß europäischer Hochmut grad hier noch viel weniger als sonst irgendwo berechtigt sei. Auch sah dieser Mann gar nicht danach aus, als ob er über einen hohen, ihm unbekannten Gegenstand in kindischer Überhebung schwatzen oder faseln könne. Da ihm meine Überraschung nicht entging, so erkundigte er sich:
„Du scheinst anderer Meinung zu sein. Habe ich etwas Unüberlegtes gesagt?“
„Nein. Ich schließe ganz im Gegenteil aus deinen Worten, daß du sehr wohl zu überlegen verstehst. Du hast über Musik sehr oft und gründlich nachgedacht?“
„Nicht nur sehr oft, sondern auch sehr gern, gründlich aber nicht. Kein Mensch darf sich rühmen, derartigen schweren Fragen bis auf den Grund zu dringen. Selbst dann, wenn einst unser Geschlecht auf Erden ausgestorben ist, wird das Reich der Töne unerforscht geblieben sein. Ich habe gehört, daß die größten Gelehrten sich mit dieser Forschung befaßt haben und auch noch heut befassen. Es ist vergeblich gewesen. Ich bin kein Gelehrter. Ich baue meinen Garten und mein Feld und hüte meine Schafe. Ich pflege dabei die Musik ganz aus demselben Grunde, aus welchem ich esse und trinke, atme, wache und schlafe; es ist der Befehl der Natur, dem ich gehorchen muß. Das eine beschäftigt meine Gedanken ganz ebenso wie das andere. Diese Gedanken können nicht gelehrt, nicht weise sein, denn ich habe keine Schule besucht, in der man lernt, wie man gelehrt zu denken hat. Sie strengen mich nicht an; ich gebe mir keine Mühe, sie zu finden; sie kommen mir wie die Luft, indem ich Atem hole; sie sind so leicht, so einfach, so selbstverständlich. Ich würde wohl mit keinem Gelehrten über Musik sprechen können, und doch ist es mir ganz so, als ob ich mich dessen, was ich von ihr denke, nicht zu schämen brauchte. Wenn jemand spricht, wenn er singt, wenn er musiziert, so hörst du Töne. Was aber ist der Ton? Ist er es selbst, den du hörst? Oder sind es nur die lustigen Falten seines Gewandes, welche an dein Ohr schlagen? Was für Töne gibt es wohl? Etwa viele? Oder gibt es nur einen einzigen, der sich aber nach der Verschiedenheit der Personen und der Werkzeuge auch verschieden offenbart? So gibt es auch nur eine einzige Liebe, die sich aber bei jedem Geschöpf und in jedem Augenblick anders zeigt. Dieser Ton ist von Chodeh allen Menschen gegeben worden; sie wären ja nicht Menschen ohne ihn. Er ist ihnen so notwendig wie das Licht, ohne welches sie nicht leben könnten. Die Natur gibt täglich neue Strahlen und täglich neue Töne. Sie kommen von dem einen Licht und von dem einen Ton. Der Mensch besitzt Organe, beide, die Strahlen und die Töne, in sich aufzunehmen. Und er hat oder macht sich Werkzeuge, beide hervorzubringen, weil dies für die Fortexistenz der Menschheit unentbehrlich ist. Werden die Töne in einfacher, natürlicher Weise hervorgebracht, so bilden sie die Sprache. Erweckt, gebraucht und vereinigt er sich nach künstlerischen Regeln, so hat er das hervorgebracht, was wir Musik zu nennen pflegen. Je mehr er sich mit dieser seiner Kunst von der Natur entfernt, desto schwerer zu begreifen wird ihre Sprache sein. Ja, es kann wahrscheinlich vorkommen, daß man sie gar nicht mehr zu verstehen vermag. Darum meine ich: Wer Musik für andere macht, um begriffen zu werden, der soll der Natur so nahe wie möglich bleiben. Der unmittelbare Nachbar der Natur ist der Gesang, den jedermann versteht, weil er nicht auf das Wort verzichtet hat. Wir lieben ihn und pflegen ihn. Er ist ein trauter Freund, der nicht in Rätseln, sondern offenbar mit uns spricht. Ja, dieser Freund ist sogar mit uns verwandt, ist hier geboren, ist unser eigenes Kind, denn was wir singen, machen wir uns selbst! Die Janitscharenmusik, welche in Teheran und Isfahan zu hören ist, bringt uns keinen einzigen Gedanken, den wir begreifen und liebgewinnen können. Ist das auch Musik, Effendi? Wenn die höchste Stufe der Kunst die ist, auf welcher sie mit der Natur nichts zu schaffen hat, so mußt du zugeben, daß ihr eigentlicher Zweck nur der sein kann, das Ohr mit unbegreiflichem und blödem Lärm zu füllen.“
Er hatte langsam und bedächtig gesprochen, aber doch fließend und in einer Weise, die mir deutlich sagte, daß er es mit einem Lieblingsthema zu tun habe. Es
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