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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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unisono verborgen. So klang es leise, leise, sich selbst kaum ahnend, hin, noch unberührt vom schöpferischen Willen. Aber da, plötzlich, als ob der Schöpfer prüfen wolle, wie er dereinst das Licht geprüft, indem er, bevor die Sonnen waren, die Strahlen alle durch das Weltall blitzte und dann wieder zu sich rief, – so tat auch dieser erste Ton sich plötzlich auf, um alle Harmonien, die es gab und geben wird, aufleuchtend von sich auszusenden und aber augenblicklich wieder in sich zu vereinen.
    Nun aber begann es sich in ihm zu regen. Alles, was dieser eine Aufblitz in unendlicher Fülle zeigte, das hatte sich nun langsam, eines aus oder mit dem anderen, harmonisch zu entwickeln. Es gab sich ganz in tausend anderen Tönen hin und hörte doch nicht auf, zu sein und zu bleiben, was es war. Der Lufthauch kam und wiegte ihn, als ob er mit und von ihm träumte, auf und nieder. Da gebar der Traum das erste Intervall, welchem, ewig stammverwandt, die anderen alle folgten. Sie umschlangen sich, vereint zur Tonika, und klangen in das Erdenparadies hernieder, um, wenn der Mensch seiner Seligkeit gedenkt, sich in ihm wieder aufzulösen, daß er den Stimmen dieser Erde die Stimme des Himmels geben möge.
    Wie aber klingt so himmlische Musik? Die Winde sagen es. Sie lauschen überall. Und wo ein frommer, heiliger Ton sich hören läßt, da nehmen sie ihn auf, um ihn zur großen Harmonie zu tragen, die betend aufwärts steigt, um als Lob und Dank zu dem zurückzukehren, aus dessen Mund sie einst als erster Ton erklang.
    Die Harfen schwiegen. Ich schlug die Augen wieder auf. Die vier Spielerinnen legten ihre Instrumente fort. Der Chodj-y-Dschuna zögerte, dies auch zu tun. Er schaute mit zagenden Augen zu mir her. Da stand ich auf, ging zu ihm hin und gab ihm, dem Herzensdrang folgend, meine Rose.
    „Sie ist vom Ustad“, sagte ich. „Ich bin so arm gegen dich, du reicher Mann. Ich habe nichts Besseres.“
    „Du beschämst mich!“ antwortete er. „Ich lehre nichts, als das, was ich empfangen habe. Auch daß ich es wiedergeben kann, verdanke ich nicht mir. Nimm du nun meine Rose. Ich bitte dich!“
    Er reichte sie mir. Das war so einfach, so menschlich lieb, daß es mich herzlich rührte.
    „Sende mir deine Schülerinnen heraus, damit ich auch jeder von ihnen eine breche“, bat ich ihn.
    Hierauf ging ich hinaus. Die Mädchen kamen. Die Rosen gehörten nicht mir, sondern ihnen, und doch sah ich ihnen an, daß ich für einen Dank die rechte Weise getroffen hatte.
    Tifl wartete mein, um mir zu sagen, daß ich nun wieder nach meinem Platz gehen könne, wenn ich wolle. Ich tat es, voller Erwartung, was nun kommen werde. Nichts Gewöhnliches, davon war ich überzeugt! Dieser Gesanglehrer besaß mehr als das, was man Talent zu nennen pflegt!
    Es kam jetzt eine Anzahl Dschamikun mit Frauen und Mädchen herein. Sie stellten sich in der Mitte auf, um zu singen, ohne Leitung; der Chodj-y-Dschuna war nicht bei ihnen. Was ich hörte, war ein dreistimmiges Lied. Der Text lautete:
    „Ich komm zu dir im Sonnenstrahl
Und laß mir deine Rosen blühen.
    In tiefer Andacht liegt das Tal
Vom Morgen- bis zum Abendglühen.
    Ich sehe aus der stillen Flut
Die Berge Gottes aufwärts steigen.
    Und wo sein Haus auf Säulen ruht,
Soll heut sich mir der Himmel zeigen.
    ‚Ich komm zu dir im Sonnenstrahl‘,
So spricht der Herr und steigt hernieder.
    Die Glocken klingen übers Tal,
Und von den Bergen tönt es wieder.
    Brich auf, mein Herz, der Rose gleich,
In der sich alle Düfte regen.
    Es naht sich dir das Himmelreich;
Brich auf, und dufte ihm entgegen!“
    Über diesen Text ist nichts zu sagen, kein Wort. Er spricht ja selbst! Wovon? Von einer Begegnung im Beit-y-Chodeh. Nun verstand ich die Worte, welche der Ustad sagte, als er mir die Rose gab. Aber die Tonweise! War das Gesang, oder war es Sprache? Gesangsprache oder Sprachgesang? Ich meine keineswegs Recitativ. Mit diesem hatte es nicht die entfernteste Ähnlichkeit. Unser Gesang ist Kunst; dieser war Natur. Aus unserer Harmonisierung ist jeder einzelne Akkord zu lösen; hier war das eine Unmöglichkeit. Bei uns pflegt man im Liedgesang die Melodie einer einzelnen Stimme, den anderen die Begleitung zu geben; hier war alles Melodie, jede Stimme, und doch wurde jede eine von den anderen harmonisch unterstützt. Das war schwer, sehr schwer und klang aber doch so außerordentlich natürlich, so ungewollt, so ganz von selbst. Es gab keine Absicht, irgend einen bestimmten Akkord zu bilden, eine

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