22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
Septe in die Sexte herabzuleiten.
Alles, was ich über Komposition wußte, war hier gleich Null!
Und aber doch diese Wirkung! Von mir und den Dschamikun selbst will ich in dieser Beziehung nicht sprechen; aber das Lied hatte sämtliche Perser vom Waldrand herabgelockt. Sie hatten ihre Pferde oben gelassen und sich hinten bei den Säulen hingesetzt. Es war ihnen und ihrem Verhalten anzusehen, welchen Eindruck das Lied auf sie gemacht hatte. Indem sie miteinander sprachen, drückten ihre Mienen und Blicke sehr deutlich den Wunsch aus, daß man doch weitersingen möge.
Er wurde erfüllt. Die vorigen Sänger hatten sich entfernt. Jetzt kamen vier Männer und vier Frauen, also acht Personen. Man nennt das bei uns ein Doppelquartett.
Was sie sangen, klang außerordentlich ernst. Die Worte lauteten:
„Wir knien hier vor deinem Angesichte
Im Geist vom Geiste, nicht im Staub vom Staube.
Wir flehen um das Licht von deinem Lichte;
Im Dunkel bleibt der falsche Erdenglaube.
Du bist der Vater. Alle sind wir dein.
Laß uns im Lichte deine Kinder sein!
Du schufst die Welt als größtes Wort der Liebe,
Doch will die Menschheit dieses Wort nicht fassen.
Und wenn sie tausend heilge Bücher schriebe,
Sie würde doch nicht lieben, sondern hassen.
Du bist der Vater. Alle sind wir dein.
Laß uns in Liebe deine Kinder sein!
In ewgem Frieden kreisen deine Sterne.
Ihr Licht umfließt die ganze, ganze Erde.
O daß sie doch von diesem Lichte lerne
Und endlich, endlich menschenfreundlich werde!
Du bist der Vater. Alle sind wir dein.
Laß uns im Frieden deine Kinder sein!“
Das war ein Gebet! Und wie wurde es gesungen! Nicht etwa nach einer alten, wohlbekannten Melodie, der man auch jeden anderen Text unterlegen kann. Hier beteten die Töne noch deutlicher als die Worte. Die Perser waren doch wohl Leute, welche durch Worte nicht so leicht überwältigt werden konnten; aber als der letzte Ton jetzt über das Tal hinüber nach den lauschenden Bergen klang, wo die Hirten still bei ihren Herden standen, da sah ich alle zwölf Köpfe tief herabgesenkt, und es dauerte längere Zeit, ehe sich die Gesichter wieder sehen ließen. Worte klingen sehr leicht nur an das Ohr. Waren bei ihnen die Töne tiefer eingedrungen, um ihnen das erbetene Licht zu der Erkenntnis zu bringen, daß niemand sich der wahren Liebe rühmen darf, wenn er nicht den Frieden seines Nächsten achtet. Dann hätte der zum Menschenherzen trachtende Himmelsklang hier, am Beit-y-Chodeh der Dschamikun, ein Wunder bewirkt, welches den wohlerwogenen Worten und wohlgesetzten Reimen und Liedern anderer nicht gelingen will!
Nun kam Tifl zu mir her und sagte, indem er mich von der Seite her pfiffig anlächelte:
„Effendi, jetzt ist die Zeit gekommen, in der man essen muß – wenn man nämlich etwas hat.“
„Ich habe aber nichts!“ klagte ich.
„Oh, mehr als ich! Sogar Pflaumen!“
„Wo?“
„Da, wo es im Wald am schönsten ist. Der Ort ist nur für einen einzigen, und ich soll dich bitten, heut auch einmal dort sein Gast zu sein.“
„Wer ist's?“
„Du wirst ihn sehen.“
„Aber, bin ich nicht zu schwach, da hinaufzusteigen?“
„Es ist nicht weit von hier. Auch kannst du unterwegs ruhen, so oft du willst.“
„So laß uns gehen!“
Er führte mich an den Persern vorüber, bergan dem Wald zu. Der Stock erleichterte mir den Weg. Dennoch mußte ich schon am Waldrand anhalten, um auszuruhen. Man konnte von hier aus den ganzen Park übersehen, durch dessen vielgewundene Gänge schmale, lebendige Menschenströme wie durch Rosenadern pulsierten. Der Ustad und der Peder waren noch im Tempel. Wer Schatten suchte, kam herauf zum Wald.
Überall glänzten freundliche Gesichter. Heiteres Lachen erscholl. Hier und da erklang schon die abgerissene Zeile eines kleinen Liedchens. Allerlei sangeslustige, flügellose Lerchen stimmten vorschnell ihre Kehlen.
„Man soll jetzt noch nicht singen“, erklärte mir ‚das Kind‘. „Oh, Sihdi, wir haben viele schöne Lieder! Für Kinder, für Jünglinge und Jungfrauen und auch für die Alten.“
„Singst auch du?“
Da warf er sich in die Brust, richtete sich hoch auf und antwortete:
„Höre, was ich dir sage: Ich singe sie alle, alle stumm! Willst du es hören?“
„Ja.“
„So bitte ich dich aber, zu warten. Jetzt darf ich noch nicht.“
„Warum nicht?“
„So bald nach den ernsten Gesängen hört der Ustad Liebeslieder nicht gern.“
„Liebeslieder? Tifl, Tifl! Was höre ich!“
Der Gute verstand mich
Weitere Kostenlose Bücher