223 - Die Sünden des Sohnes
an zu knacken, zu zischen und zu schnalzen. Die Frauen und Männer um Nefertari rissen Augen und Münder auf, wichen zurück und sprangen hoch.
Aruula hörte die unverständlichen Laute, die von seinen Lippen kamen, und nur weil Nefertari jedes seiner Worte verstand, erfasste auch Aruula den Sinn seiner Sätze.
»Es gibt euch noch?«, fragte er. »Es gibt tatsächlich noch Nachfahren der Hydree hier auf Ork’huz? In Maddrax’ Geist meinte ich Andeutungen eines solchen Wissens gelesen zu haben, doch ich hielt das für närrische Eingebungen meines Wahnsinns. Und nun treffe ich dich, E’fah!«
» Hydriten nennen deine Nachkommen sich, verehrter Gilam’esh, und Ork’huz nennen wir nach Art der Lungenatmer Erde. Doch sage mir, Großer Gilam’esh – wie kann es sein, deinen Geist in einem Lungenatmer dieser Welt zu treffen? Die uralten Aufzeichnungen der Ramyd’sams und Pozai’dons im Wahren Buch der Chronik berichten doch, dass du auf Rotgrund zurückgeblieben bist, nachdem du deinem Volk den Weg durch das Tunnelfeld gebahnt hattest.«
Schlagartig begriff Aruula – es war gar nicht der einäugige Kerl, der da redete, es war ein anderes Bewusstsein, das aus ihm sprach! Genau wie Nefertari sich ihrer Zunge bediente, so bediente das andere Bewusstsein sich der Zunge des Einäugigen! Genau wie in ihr, Aruula, lebte auch in diesem Einäugigen der Geist eines Hydriten! Und es musste ein ganz besonderer Hydrit sein, dass ein arroganter Geist wie Nefertari regelrecht zusammenbrach in seiner Gegenwart. Gilam’esh – kannte sie diesen Namen nicht? Hatte sie ihn nicht von Maddrax gehört? Oder von Nefertari? Er war in dem Namen der Stadt enthalten, zu der sie wollte.
»Du träumst nicht, E’fah«, fuhr der Fremde fort. »Meinen Körper haben die Patrydree getötet, als sie die Tunnelfeldstation im Meer des Rotgrunds eroberten. Doch da ich ein Weltenwanderer bin, gelang es mir, meinen Geist in den Zeitstrahl zu retten. Über drei Milliarden Umläufe ist das her, und über drei Milliarden Umläufe musste ich im Zeittunnelfeld hausen, musste zwischen Ork’huz und dem Rotgrund hin und her wandern…«
Wie gebannt lauschte Aruula der Geschichte des erhabenen Geistes, der da zu Nefertari sprach. Sie vergaß die Menschen, die um sie herumstanden, sie vergaß den Absturz, sie vergaß sogar ihre Absicht, Nefertari anzugreifen und endlich aus ihrem Körper zu vertreiben.
»… ich wurde wahnsinnig, verlor mich in den Räumen und Zeiten. Bis völlig unerwartet Maddrax im Tunnelfeld auftauchte. In meinem Wahnsinn bekämpfte ich ihn, meinen Bruder, und als er aus dem Zeitstrahl floh, folgte ich ihm. So gelangte ich in den Körper dieses tapferen Mannes hier, Yann Haggard. Er ist ein Seher, und sein Hirn verfügt über Gaben, die mich von meinem Wahnsinn heilten. Im Gegenzug unterdrücke ich seitdem die Schmerzen, die ein Tumor in seinem Kopf verursacht. Nun teilt er seinen Körper mit mir.«
»Mit Maddrax kam ich hierher in die eroberte Stadt, Großer Gilam’esh«, sagte Nefertari. »Mit ihm und einem Weißhaarigen namens Rulfan und dessen Tier. Unser Luftschiff wurde abgeschossen. Ich weiß nicht, ob die beiden Männer noch am Leben sind.«
Die Miene des Einäugigen verdüsterte sich, und Aruula zog sich trauernd hinter ihren mentalen Schutzwall zurück.
***
Niemand fand Schlaf in dieser Nacht. Kein Minister, keine Hofdame, weder Prinz Akfat noch Prinz Victorius, und schon gar nicht der Kaiser. Wie ein böser Wachtraum kamen ihnen die Ereignisse des vergangenen Tages vor.
Die Eroberer hatten den Hofstaat und das kaiserliche Kabinett im Musikzimmer eingesperrt. Auch ein Teil der kaiserlichen Gemahlinnen war hier gefangen. De Rozier hatte gehört, dass man den anderen, kleineren Teil seiner auf Wimereux-à-l’Hauteur anwesenden Gattinnen in der Palastküche eingekerkert hatte.
Pilatre de Rozier und Prinz Akfat standen am Südfenster des Musikzimmers. Der Raum lag im zweiten Obergeschoss des Palastes und hatte weder Erker noch einen Balkon. Vom Fenster aus konnten sie fast die gesamte Stadt überblicken, als der neue Morgen graute. Der Morgen des ersten Tages nach dem Undenkbaren.
Bis lange nach Mitternacht hatte die Frau unten im Palastpark geschrien. Niemanden hatten die Schreie kalt gelassen. Die Gattinnen des Kaisers waren dadurch zu Tränen, Ohnmachtsanfällen oder hysterischen Krämpfen veranlasst worden. Einige Minister hatten sich die Ohren zugehalten.
Irgendwann nach Mitternacht war die Frau verstummt.
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