223 - Die Sünden des Sohnes
so aus, als hätten die Heiler des feindlichen Heeres sie bereits versorgt«, sagte sie. »Zumindest das Blut haben sie ihr abgewaschen und die vielen Wunden eingeölt.« Sie deutete auf die Arme der Frau. Auch auf deren Haut reihte sich eine kleine Stichwunde an die andere.
»Sie gehört zu ihnen«, sagte Akfat. »Das ist keine Bürgerin Wimereux-à-l’Hauteurs. Das ist die Frau, die Maddrax’ Sohn unten im Park gequält hat!«
»Meinst du wirklich?« Der Kaiser beugte sich tief über das schöne Gesicht der Verletzten. »Dafür gibt es eigentlich nur eine einzige Erklärung.«
Dr. Aksela zog indessen das blutverschmierte Leintuch vom nackten Körper der Frau. »Mon dieu…!«, stöhnte die Ärztin auf. Alle Umstehenden schlugen die Hände vor die Gesichter, seufzten, stöhnten oder stießen irgendwelche Laute des Entsetzens und des Mitleids aus. Der gesamte Körper der Frau war zerstochen und zerkratzt.
»Die Wunden entzünden sich schon«, sagte Dr. Aksela leise. »Sie hat bereits Fieber.«
Plötzlich schlug die Frau die Augen auf. Pilatre de Rozier hielt den Atem an. Von einer Sekunde auf die andere blickte er in die schönsten Augen, die er je gesehen hatte. »Ihr müsst Königin Elloa sein«, flüsterte er.
***
Bei Sonnenaufgang schlichen Matt und Chira aus dem Waldstreifen zum Seeufer. Ein paar hundert Meter abseits des Heerlagers verbargen sie sich im Schilf. Im Schutz der hohen Halme gelangten sie ans Wasser. Chira soff sich voll. Matt Drax kühlte seinen heißen Kopf, wusch sich und trank.
Als die Sonne sich vom östlichen Horizont löste, kletterte der Mann aus der Vergangenheit in das dichte Laub einer der Weiden, die dort am Rande des Schilfs wuchsen. Von hier aus konnte er sowohl das Basislager der Eroberer als auch die abgestürzte Stadt beobachten. Das Lager war ungefähr vierhundert Meter entfernt, die Stadt etwas mehr als sechshundert.
Nirgendwo sah er noch Rauch aufsteigen. Vom Südwall aus stieg ein Ballon in die Luft. Es war einer der neun großen Stabilisierungsballons. Matt erinnerte sich, gestern, kurz vor dem Absturz, keinen einzigen Ballon entlang der Südseite gesehen zu haben. Jetzt schwebten dort wieder drei Ballons in der Luft. Daa’tan und Grao’sil’aana zwangen demnach die kaiserlichen Ingenieure zu Reparaturarbeiten.
Im Licht der immer höher steigenden Sonne beobachtete der Mann aus der Vergangenheit, wie mehrere Arbeitskolonnen die Stadt verließen. Bewaffnete Krieger mit Federbüschen auf den Köpfen flankierten sie: Wachen. Eine Kolonne begann die beschädigte Verankerungspyramide im Norden zu reparieren. Eine zweite kümmerte sich um den Versorgungsschlauch. Offensichtlich musste die Wolkenstadt ganz neu an die Gasversorgung angedockt werden. Die Männer zweier Kolonnen kletterten in die Raumgitterkonstruktion unter der Stadt. Vermutlich mussten einige Gasparzellen des Trägerballons geflickt werden.
Matt machte sich nichts vor: Es war eine Frage der Zeit, bis die gefangenen Ingenieure die Wolkenstadt repariert haben würden. Und dann? Dann würde sie wieder starten und unerreichbar über den Wolken schweben.
Matt Drax brauchte nicht lange zu überlegen. Es lag auf der Hand, was er zu tun hatte: Er musste sich in die Stadt einschleichen, bevor diese abhob. Andernfalls würde Aruula wieder so weit weg für ihn sein wie in den Monaten zuvor.
Und was, wenn er es bis nach Wimereux-à-l’Hauteur hinein geschafft hatte? Wie sollte er einen jungen Burschen besiegen – seinen eigenen Sohn! – der selbst aus verarbeiteten Bambusrohren noch Triebe sprießen lassen konnte? Und was sollte er gegen einen daa’murischen Gestaltwandler ausrichten?
Eines nach dem anderen, ermahnte er sich. Erst einmal musst du in der Stadt sein.
Vom Basislager des feindlichen Heeres aus zog ebenfalls eine Marschkolonne zur Stadt. An der Nordseite schoben die Krieger die Erstürmungstürme zu einer Plattform zusammen. Aus dem Wald erklangen bald die Axtschläge von Holzfällern. Bis zum Mittag hatten die Krieger Treppen zwischen der Wallkrone und den Erstürmungstürmen errichtet. Über sie schleppten die Fremden Waffen und Material in die Stadt hinein. Sie wollten sich also tatsächlich in Wimereux-à-l’Hauteur einnisten!
Matt Drax überlegte, ob er den improvisierten Zugang zur Stadt ausnutzen oder lieber im Schutz der Ranken in die Stadt klettern sollte. Wie auch immer – in der kommenden Nacht musste er sein Glück versuchen, sonst würde es zu spät sein.
Unter sich, am Fuß des
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