223 - Die Sünden des Sohnes
Später hatte man sie in den Palast getragen. De Rozier fragte sich, warum man eine Tote hierher brachte.
»Der erste neue Ballon steigt auf.« Prinz Akfat blickte nach Süden. Tatsächlich sah man dort an der Südostecke der Stadt die Umrisse eines neuen Stabilisierungsballons in den grauen Himmel schweben. Drei Ballons an der Südseite der Stadt hatten die feindlichen Eindringlinge zerstört, der Echsenartige und der schwarze Hüne. Zusammen mit der Vernichtung zweier Propellerstationen hatte das zum Absturz von Wimereux-à-l’Hauteur geführt.
»Dann werden sie die anderen beiden im Lauf des Tages ersetzen«, sagte de Rozier mit finsterer Miene. »Wenn wir Pech haben, schaffen sie es bis morgen, den Trägerballon zu flicken und den Versorgungsschlauch wieder an das Gasreservoir anzuschließen.«
Prinz Akfat entgegnete nichts, nickte nur stumm. Vater und Sohn wussten beide, was es bedeutete, sollte es den Eroberern tatsächlich gelingen, die Stadt so rasch wieder in die Wolken zu bringen. Solange die Hauptstadt am Boden lag, würden die vereinigten Truppen der anderen Wolkenstädte vielleicht eine Chance haben, sie zurückzuerobern. War sie erst einmal gestartet, würde man mit Luftschiffen angreifen müssen. Und das feindliche Heer verfügte über zahlreiche Faustfeuerwaffen, mit denen es Löcher in die Trägerballons der Rozieren schießen konnte.
»Was sollen wir tun, mon Père?«, fragte Prinz Akfat.
Der Kaiser spähte zum Marktplatz hinunter. Das matte Licht der Morgendämmerung lag über ihm. Die Eroberer hatten einen Zaun auf dem zentralen Platz der Stadt aufgebaut. Hinter ihm saßen oder lagen die überlebenden Soldaten des Wachbataillons. Etwa hundertzwanzig Männer, schätzte de Rozier. Vielleicht fünfzig Wachen patrouillierten um das Areal mit den Gefangenen. Alle schwer bewaffnet.
»Abwarten«, sagte der Kaiser mit hohler Stimme. »Abwarten und weitere Opfer vermeiden. Wir können nur hoffen, dass unsere Ingenieure und Techniker Mittel und Wege finden, die Reparaturarbeiten hinauszuzögern. Wimereux-à-l’Hauteur sollte noch am Boden liegen, wenn Hilfe kommt.«
Die Tür wurde aufgeschlossen, de Rozier und sein Sohn fuhren herum. Auch die Gattinnen des Kaisers, die Hofdamen und die Minister schreckten hoch. Alle starrten sie zur Tür. Begannen jetzt die Verhöre? Holte man jetzt den nächsten, um ihn draußen im Park zu foltern?
Zwei schwer bewaffnete Huutsi-Krieger traten ein und nahmen rechts und links der Tür Aufstellung. Auf einer Trage schleppten zwei weitere Krieger einen Menschen herein, einen Verletzten offensichtlich, denn de Rozier hörte ihn leise stöhnen.
Eine alte Frau in einem blauen Gewand ging neben der Trage her, weitere Wachen folgten. Zuletzt betrat der dicke General das Musikzimmer. Sango hieß er, de Rozier erinnerte sich an den Namen. Mit grimmiger Miene musterte der General die Gefangenen.
Sie setzten den Verletzten neben der Chaiselongue ab, auf der Victorius lag. Der trug einen blutigen Kopfverband. Der Prinz hatte sich beim Sturz vom Ostwall eine Platzwunde am Kopf und eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen.
Die Alte ging neben dem Verletzten in die Knie, holte ein Fläschchen aus ihrem Gewand und träufelte ihm ein paar Tropfen einer Flüssigkeit zwischen die Lippen. Danach stellte sie das Fläschchen neben die Trage, stand auf und huschte aus dem Musikzimmer.
»Senkt das Fieber und mildert den Schmerz«, schnarrte General Sango. Er deutete auf das Fläschchen. »Wir sollten sie eigentlich in das Verließ unter der Palastlatrine bringen.« Er blickte nach links und rechts und kam schließlich auf den Kaiser zu. Dicht vor ihm blieb er stehen und senkte die Stimme. »Aber das bring ich nicht über mich. Immerhin ist sie eine Frau.« Sprach’s, drehte sich um und schritt aus dem Raum. Die schwer bewaffneten Wachen folgten ihm, die Tür wurde wieder zugeschlossen. Mindestens vier feindliche Krieger würden davor stehen bleiben, das wussten Pilatre de Rozier und die Seinen inzwischen.
Der Kaiser, Prinz Akfat und ein paar Frauen liefen sofort zu der Trage. De Rozier ging davor in die Knie und beugte sich über die Verletzte. Es war tatsächlich eine Frau. Eine schöne Frau. Sie schien bewusstlos zu sein. Blut sickerte ihr aus Mund und Nase. Ihr Gesicht war übersät von kleinen und kleinsten Stichwunden.
»Dr. Aksela! Schnell!« De Rozier winkte seine Leibärztin herbei. »Untersucht die Ärmste!«
Die Gattinnen des Kaisers machten der Ärztin Platz. »Sieht
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